Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
nicht jedem. Während Oppenheimer an diesem Tag seine lebenslange Leidenschaft für die Physik und für die neumexikanische Landschaft auf sinnvolle Weise zusammengeführt sieht, hat ein psychisch labiler ehemaliger Schüler die Ausbildungsziele offensichtlich verfehlt. Der 28-jährige William S. Burroughs verdient im Herbst 1942 seinen Lebensunterhalt als Kammerjäger in Chicago und hat ein Faible für Schwulenbars entwickelt. In wenigen Jahren wird er mit Jack Kerouac und Allen Ginsberg eine radikal neue literarische Bewegung ins Leben rufen. Er habe in Los Alamos immer nur gefroren, erinnert sich Burroughs an den Männerbund und den paramilitärischem Drill auf dem Hochplateau [Hun:16].
«Das ist es» [Bad:15], soll Leslie Groves spontan ausgerufen haben, beeindruckt wohl auch von den Jungen und ihren Betreuern, die im Schneegestöber auf dem Sportplatz der Schule exerzieren. Die Besucher nehmen keinen Kontakt mit den Bewohnern des Plateaus auf, sondern schauen sich alles nur von außen an. Mit dem geschulten Blick des Enteigners erkennt Groves, dass sich in dem dreistöckigen Haupthaus ohne großen Aufwand erste provisorische Labors einrichten ließen. Für die Unterkünfte von Pionieren, Bautrupps und deren Material wäre ebenfalls gesorgt. Am selben Abend noch hat der General seine Entscheidung getroffen, und nur fünf Tage später beginnen die Verkaufsverhandlungen. Den Schülern wird zugesichert, ihr Semester bis Mitte Januar 1943 beenden zu können. So erwirbt das Manhattan Projekt seinen «Standort Y» – das Hochplateau von Los Alamos, dessen hellbraunes Tuffgestein vor einer Million Jahren beim Ausbruch des nahen Valle-Grande-Vulkans als heiße Asche hierher geschleudert wurde. Das Schulgelände geht für 335 000 Dollar in Staatsbesitz über. Die Gebäude sind im Preis inbegriffen, auch das Schlachtvieh, die 60 Reitpferde sowie Traktoren und Kleinlastwagen.
In Chicago zeigt sich Leo Szilard unbeeindruckt von den Neuigkeiten aus New Mexico. Mit einem Blick auf die Landkarte lästert der ewige Hotelgast: «An einem solchen Ort kann man doch nicht klar denken. Wer da hingeht, wird nur verrückt» [Lan:255]. Am 31. Dezember 1942 läuft sein Vertrag mit dem Met Lab aus. Eine Neuanstellung hängt auch vom Verlauf der Verhandlungen mit Leslie Groves über seine Nuklearpatente ab. Im Frühjahr 1943 entwirft Szilard einen neuen Reaktortyp für schnelle Neutronen und nennt ihn «Brüter». Mit ihm soll die Plutoniumgewinnung effizienter sein als mit früheren Modellen. Dem zu Konsultationen über Reaktordesign nach Chicago gereisten Hans Bethe erzählt er von seinen Aufzeichnungen über die Fortschritte der Arbeit im Met Lab. Allerdings solle sie niemand jemals zu lesen bekommen. Sie seien ausschließlich «für Gott bestimmt». – «Glaubst du nicht, dass Gott die Fakten schon kennt?», fragt Bethe. «Kann schon sein, aber bestimmt noch nicht meine Version der Fakten» [Lan:248].
Eugene Wigner leitet die Theoriegruppe am Met Lab, der sieben junge Physiker angehören. Sie sollen den Meiler für den Standort W entwerfen. Chefdesigner Wigner arbeitet auf Hochtouren, getrieben von der Angst, die Deutschen könnten ihnen voraus sein. Nur fünf Wochen nach Fermis Triumph in der Squashhalle legen Wigner und seine Mitarbeiter der Firma Dupont ihr fertiges Konzept für einen 250-Megawatt-Reaktor vor. Nicht einmal die Direktoren sind in das vorrangige Ziel eingeweiht, mit diesem ersten Atomkraftwerk der Welt einen unvorstellbar potenten Explosivstoff zu produzieren. Das Wort Plutonium existiert in den USA offiziell jetzt gar nicht mehr. Sein Codename ist «49», ein von Element 94 abgeleiteter Zahlentwist.
Das Herzstück des Wigner’schen Hanford-Reaktors ist ein Zylinder aus 1100 Tonnen Graphit mit achteinhalb Metern Durchmesser und elf Metern Länge. Darin stecken mehr als tausend Aluminiumröhren, die als Behälter für 200 Tonnen Uran in Stabform dienen. 280 000 Liter Kühlwasser aus dem Columbia River fluten pro Minute am Uran vorbei und führen die 250 Megawatt Wärme ab, die der Brennstoff erzeugt. Rund drei Monate später ist eines von jeweils 4000 Uranatomen in ein Plutoniumatom verwandelt worden [Rho:506 f.]. Dann sollen die bestrahlten heißen Uranbrennstäbe herausgezogen werden und in tiefen Wasserbecken abklingen. Nach zwei weiteren Monaten werden sie wieder herausgeholt und zur chemischen Abtrennung, Reinigung und Anreicherung von Endprodukt 49 in eine 16 Kilometer entfernte
Weitere Kostenlose Bücher