Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
Anlage gebracht.
Als Mitte März 1943 die ersten Wissenschaftler auf dem frostigen Vulkangestein von Standort Y eintreffen, ist das Plateau eine einzige Baustelle. Die Neuankömmlinge stolpern über Wasserrohre am Straßenrand, klettern über Erdhaufen und müssen über Gräben springen, bevor sie ihre hastig aufgestellten Wohncontainer betreten können. Sie staunen, wenn im Regensturm der Bach unten im Canyon Lehmbrocken losreißt und sich das Wasser tiefrot färbt. Und wenn sie das Alpenglühen auf den schneebedeckten Bergen in der Ferne zum ersten Mal gesehen haben, verstehen sie auch, warum die frommen spanischen Siedler die Bergkette Sangre de Cristo – Blut Christi – genannt haben.
Wer den Projektleiter sucht, muss damit rechnen, ein im Umbau befindliches, mächtig zugiges Schulgebäude zu betreten, in dem die alten Fenster gerade herausgerissen werden. Aber auch die Küche bleibt kalt. Warme Mahlzeiten sind die Ausnahme. Anfangs lässt man täglich nur belegte Brote aus dem 50 Kilometer entfernten Santa Fe auf die mesa bringen, wie das Spanisch sprechende Dienstpersonal das Plateau von Los Alamos nennt. Wer in weiser Voraussicht einen elektrischen Grill mitgebracht hat, weiß sich plötzlich von vielen guten Freunden umringt.
Kapitel 10
FAT MAN
Wahrend also im neumexikanischen Hochland eine mit Stacheldraht umzäunte Stadt mit einem einzigen Telefonanschluss aus dem Boden gestampft wird, schreibt Werner Heisenberg in Berlin einen Brief an Heinrich Himmler. Er weiß, dass der Reichsführer SS an seiner Ernennung zum Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik und bei der Berufung auf den Lehrstuhl für theoretische Physik an der Universität Berlin entscheidend mitgewirkt hat. In seinem Brief dankt er ihm dafür und wertet beide Titel als «Wiederherstellung meiner Ehre» [Wal 2 :380]. 1937 war er in der SS-Zeitschrift «Das schwarze Korps» als «weißer Jude» beschimpft und indirekt mit Berufsverbot und Verfolgung bedroht worden. Himmler hatte ihm damals nahegelegt, in seinen Vorlesungen die Namen jüdischer Physiker nicht mehr zu nennen. 1938 bekannte Heisenberg einem Kollegen: «… mir [war] Einsteins Haltung in der Öffentlichkeit niemals sympathisch … ich werde den Rat Himmlers gern dahingehend befolgen, dass ich dann, wenn ich über die Relativitätstheorie spreche, gleichzeitig betone, dass ich politisch und ‹weltanschaulich› eine andere Stellung einnähme als Einstein …» [Wal 2 :379]. Nach Himmlers Einsatz für seine Karriere schreibt Heisenberg im Frühjahr 1943 in der Zeitschrift für die gesamte Naturwissenschaft : «Die Relativitätstheorie [wäre] zweifellos auch ohne Einstein entstanden» [Wal 2 :380].
Eine Woche nach Eingang des Heisenberg-Briefes ist Heinrich Himmler, der sich für die Reinkarnation des deutschen Königs Heinrich I. aus dem 10. Jahrhundert hält, in Ostpolen unterwegs, um die Vernichtungslager in Sobibor und Treblinka zu inspizieren. Da ausgerechnet am Tag seiner Ankunft in Sobibor kein Transportzug in der Todesfabrik eintrifft, muss die SS improvisieren und treibt hundert jüdische Frauen und Mädchen in der nahe gelegenen Stadt Lublin zusammen, um ihrem obersten Dienstherrn die inzwischen gesteigerte Effizienz der Vergasung zumindest in einem Schnellverfahren demonstrieren zu können [Ben:391]. In den Gaskammern sind seit Mai 1942 mehr als 100 000 Juden umgebracht worden. Himmler zeigt sich beeindruckt von der Leistungsfähigkeit seiner Schwarzen Männer vor Ort und befiehlt eine Neuorganisation der Bahntransporte, damit die Kapazität des Lagers Sobibor besser ausgeschöpft werden kann.
Beim direkten Wettbewerb um die erste nukleare Kettenreaktion auf deutschem Boden müsste der Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts und Lehrstuhlinhaber Heisenberg eigentlich auf Kurt Diebners unverhofft erfolgreiche Würfelsymmetrie reagieren. Aber offenbar will er seine liebgewonnene Schichtenanordnung nicht so ohne weiteres aufgeben. Diebner und sein Team sind hingegen auf der richtigen Spur. In einem neuen Würfelexperiment kommen sie der kritischen Reaktorgeometrie einen weiteren Schritt näher. Der Aluminiumbottich aus dem ersten Versuch ist mit Paraffin ausgekleidet und mit schwerem Wasser gefüllt. 240 Uranmetallwürfel werden darin versenkt. Sie sind an Drähten aufgehängt und so angeordnet, dass sie «die kubisch dichteste Würfelpackung» [www 3 ] ermöglichen. Auch dieses Mal gelingt den Forschern in Gottow eine Neutronenvermehrung.
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