Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
Lab. Er hat Crawford Greenevalt mitgebracht, der die Firma Dupont vertritt. Sie soll Fermis Meisterwerk – sofern es denn funktioniert – so schnell wie möglich als Industrieanlage nachbauen. Enrico Fermi steht neben seinen Kontrollgeräten und Messinstrumenten. Er erklärt in groben Zügen die Funktion des Reaktors und legt Wert auf die Feststellung, hier nur ein Experiment zu Ende bringen zu wollen. Der Meiler sei nicht darauf ausgelegt, die Kernspaltungsenergie bereits anzuzapfen und damit Strom zu erzeugen. Vielmehr sei es seine Absicht, den Reaktor zu beherrschen und so zu dirigieren, dass er nicht mehr als ein halbes Watt Energie erzeuge – gerade genug, um eine Leuchtbirne aufflackern zu lassen.
George Weil, ein Mitarbeiter Fermis aus Columbia-Zeiten, steht als Einziger direkt vor dem Reaktor. Alle Cadmiumstäbe, bis auf einen, sind herausgezogen. Mit Blick auf die Messinstrumente hantiert Fermi mit seinem Rechenschieber und vergleicht den Wert der Neutronenintensität mit Andersons Ergebnissen der Vornacht. Dann gibt er Weil ein Signal, den letzten Stab um 15 Zentimeter herauszuziehen. Die Instrumente können den plötzlich ansteigenden Neutronenfluss nicht mehr registrieren und müssen umständlich neu eingestellt werden. Nach weiteren 15 Zentimetern gibt es einen dumpfen Knall. Ein Sicherheitsrelais hat einen der Kontrollstäbe automatisch in den Meiler zurücksausen lassen, weil der zuvor festgelegte Wert der Neutronenvermehrung überschritten worden ist. Es ist jetzt halb zwölf, und Fermi sagt: «Ich habe Hunger. Lasst uns was essen gehen» [Wat:31]. Alle Kontrollstäbe werden zurückgeschoben und mit Schlössern gesichert.
Um zwei Uhr nachmittags stehen 42 Gäste auf der Empore. Und der anfangs skeptische Dupont-Vertreter scheint inzwischen der Aufgeregteste von allen zu sein. Im entscheidenden Augenblick stellt sich Arthur Compton neben Enrico Fermi. Der letzte Cadmiumstab ragt jetzt zwei Meter aus dem schwarzen Riesenei heraus. Bevor George Weil den Stab um weitere 30 Zentimeter herauszieht, hebt Fermi die Hand und sagt: «Es ist so weit. Jetzt wird es zur Kettenreaktion kommen» [Fer:213]. Herbert Anderson schildert den historischen Augenblick: «Zuerst konnte man das Geräusch des Neutronenzählers hören: klicketi-klack, klicketi-klack. Dann wurde dieses Klicken immer schneller, bis es nach einer Weile zu einem anhaltenden Knatterton wurde. Der Zähler konnte nicht mehr folgen» [Wil:95]. Worauf das Aufzeichnungsgerät eingeschaltet wird. Die Zuschauer verfolgen stumm, wie die Nadel die Kurve steil nach oben führt. Fermi strahlt übers ganze Gesicht.
Jetzt verdoppelt sich die Neutronenintensität alle zwei Minuten. Der graue Würfelballon muss seine vorgesehene Funktion nicht mehr erfüllen. Der Meiler ist von selbst kritisch geworden. Eugene Wigner hat eine Flasche Chianti mitgebracht, die er noch vor dem Importverbot italienischer Weine gekauft und für diesen Tag aufgehoben hat. Irgendjemand holt Pappbecher. Jeder Zeuge dieser ersten kontrollierten Freisetzung der Atomenergie bekommt einen kleinen Schluck Wein eingeschenkt. Aber niemand bricht in spontanen Jubel aus. Wigner selbst fängt die seltsame Stimmung ein: «Wir hatten seit einiger Zeit gewusst, dass wir dabei waren, einen Riesen zu entfesseln, und doch hatten wir ein ungutes Gefühl, als uns klar wurde, dass wir es tatsächlich getan hatten» [Rho:446].
An diesem historischen 2. Dezember 1942 machen jüdische Organisationen in 29 Ländern ihre Mitbürger auf die systematische Vernichtung der europäischen Juden aufmerksam. Im polnischen Auschwitz trifft an diesem Tag ein Deportationszug mit mehr als 800 holländischen Juden ein. 77 männliche Häftlinge werden aussortiert, alle anderen direkt in die Gaskammern geschickt. Die ungarische Regierung antwortet in einer Depesche vom selben Tag auf die deutschen Vorschläge zu einer «gesamteuropäischen Lösung der Judenfrage» und brüstet sich damit, schon 1920 «antijüdische Maßnahmen eingeführt» zu haben. Sie beansprucht das gesamte Vermögen der ungarischen Juden für sich [www 4 ]. Der ungarische Jude Leo Szilard, seit fast zehn Jahren leidenschaftlich auf der Suche nach einem Verfahren zur Auslösung einer Kettenreaktion, geht nach der Weinzeremonie auf Fermi zu, schüttelt ihm die Hand und sagt: «Ich glaube, dieser Tag wird als ein schwarzer Tag in die Menschheitsgeschichte eingehen» [Lan:245].
Als Landvermesser ist es Orrin Thackers Aufgabe, möglichst
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