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Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe

Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe

Titel: Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hubert Mania
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herstellen. Am Ende ist Kurt Diebners Gottower Team vorsichtig optimistisch: Ohne Bremssubstanzen wie schweres Wasser oder Graphit ist keine Neutronenvermehrung zu erwarten gewesen [www 3 ]. Allerdings zeigen die Werte, dass mit der Würfelgitteranordnung eine Reaktorgeometrie ins Spiel kommt, die vielversprechender ist als die in Berlin und Leipzig erprobten Methoden. Und Diebner hat auch bereits eine Idee, wie sich der Versuch optimieren ließe.
     
    Die Footballmannschaft der Universität Chicago hat einmal ganz oben in der Liga mitgespielt. Aber diese glorreichen Zeiten sind längst vorbei. Inzwischen wächst Unkraut auf den Zuschauertribünen des mitten auf dem Campus errichteten Stadions an der Ellis Avenue zwischen der 56. und der 57. Straße. Als Herbert Anderson zum ersten Mal vor dem gewaltigen Westtor der Arena steht, hat er eher den Eindruck, eine mittelalterliche Burg vor sich zu haben. Eine massive Steinfassade mit Zinnen und zwei efeugeschmückten Türmen erstreckt sich links und rechts vom Tor, das zu einer ehemaligen Squashhalle unter der Haupttribüne führt. Sie ist zwanzig Meter lang, zehn Meter breit und zehn Meter hoch. Hier kann Anderson sich vorstellen, den nächsten Reaktor aufzubauen.
    Wie Heisenberg in Berlin, sind auch Fermi, Szilard und Anderson Mitte 1942 zur Tatenlosigkeit verurteilt. Selbst die in New York bereits angehäuften und nach Chicago transportierten vielen Tonnen Uran und Graphit reichen für einen kritischen Reaktor noch nicht aus. Also warten sie geduldig auf mehr Material und hoffen, dass sich die Arbeiter bei Goodyear beeilen und nicht nur ihre berechtigten Witze über den flugunfähigen Ballonklotz reißen, den sie da formen. Doch gibt es einen bedeutsamen Unterschied zu der Situation in Deutschland: Fermi hat keinen ehrgeizigen Konkurrenten um die bessere Methode, und er weiß aus seinen Berechnungen, wie er bei der nächsten Versuchsanordnung Brennstoff und Bremssubstanz so anordnen muss, dass tatsächlich eine Kettenreaktion zustande kommt. Ein Restrisiko allerdings bleibt: Werden Fermis Sicherheitsvorkehrungen genügen, um die Kettenreaktion unter Kontrolle zu bringen, oder wird die Maschine hier, im Zentrum der Millionenstadt, hochgehen, wie manche Pessimisten befürchten?
     
    Kurt Diebner weiß, dass bei seiner Würfelgitteranordnung Halterungsstreben und stabilisierende Metallplatten Neutronen absorbieren, die doch eigentlich Urankerne spalten sollen. Um die Neutronenausbeute zu steigern, will er jetzt ganz und gar auf Halterungsmaterial verzichten. Die Stabilität der Würfelanordnung soll dieses Mal direkt mit fester Bremssubstanz erreicht werden, nämlich mit «schwerem Eis». Das gefährliche Einfüllen von Uranoxidpulver mit Löffeln können sich die Gottower inzwischen sparen. Ihre 108 Würfel von fünf Zentimetern Kantenlänge sind aus wesentlich energiereicherem Uranmetall gefertigt. Sie werden kugelsymmetrisch in knapp 200 Liter schweres Wasser versenkt, das anschließend gefroren wird. Für diesen Versuch ist das Team Anfang 1943 vorübergehend in die Kältekammer der Chemisch-Technischen Reichsanstalt in Berlin ausgewichen. Haben sie im Sommer noch in ihrer Schutzkleidung geschwitzt, sind sie jetzt einer konstanten Temperatur von minus 10 Grad Celsius ausgesetzt. Als die Messungen beendet sind, haben sie allen Grund zum Jubeln: Auf Zimmertemperatur hochgerechnet, haben Diebner und sein Team mit ihrem originellen Versuch die Neutronenvermehrung des vierten Leipziger Versuchs um 50 Prozent übertroffen. Niemand hat erwartet, dass Diebner seinen Rivalen Werner Heisenberg so leichtfüßig überholen würde. Nicht mehr das prestigeträchtige Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik in der Hauptstadt ist der Ort, an dem der Fortschritt erzielt wird, sondern die Versuchsstelle Gottow in der Kummersdorfer Heide zwischen Mooren und Feuchtwiesen, ein bescheidenes Holzhäuschen auf einem Betonpodest, einsam gelegen inmitten von Birken und Kiefern.
     
    Wer in dieser letzten Novemberwoche des Jahres 1942 tatsächlich die Erlaubnis hat, die Squashhalle unter der Westtribüne des Footballstadions zu betreten, muss sich erst bei den beiden Wachsoldaten am Eingangstor ausweisen. In der Halle ist trotz des Scheinwerferlichts zunächst nicht viel erkennen, weil der Qualm der offenen Feuer in den aufgestellten Ölfässern die Sicht nimmt. Hier kokelt hochreiner Graphit vor sich hin – die Reste zugeschnittener Ziegel. Es ist ein gutgemeinter Versuch, die Kälte etwas

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