Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
Dörfer White Bluffs und Hanford sind im Kaufpreis von 5 Millionen Dollar für das 1500 Quadratkilometer große «räudige Land» inbegriffen. Häuser, Scheunen und Gärten werden niedergebrannt, ein paar hundert Menschen zwangsumgesiedelt und 177 Särge aus der Friedhofserde von White Bluffs ausgegraben und zu einem 50 Kilometer entfernten Friedhof transportiert [www 5 ].
Am 16. November 1942, als in Chicago die Ballonhülle unter der Westtribüne entfaltet und in die Höhe gezogen wird, trifft sich Robert Oppenheimer mit Major John Dudley vom MED und mit Leslie Groves in New Mexico [Bad:14]. Der General drängt auf eine Entscheidung für den «Standort Y». Hier soll das Waffenlabor entstehen, als dessen Direktor Oppenheimer ernannt worden ist. Für die Konstruktion der Bombe müsse ein Ort gefunden werden, so lautet Groves’ Direktive, der so weltverloren sei, dass ein paar hundert «hochtalentierte Spezialisten, darunter einige Primadonnen» [Rho:455] für die Dauer des Krieges einfach dort verschwinden könnten, als seien sie vom Erdboden verschluckt worden. Dudley hat im Südwesten der USA bereits ein paar Dutzend Orte inspiziert und will seinen Auftraggebern heute einen Canyon nördlich von Santa Fe präsentieren, den er für geeignet hält. Doch Groves lässt kein gutes Haar an Dudleys Wahl [Bad:3], findet das Territorium viel zu schmal und sieht vor allem keine Chance, irgendwo seine Eisenzäune mit dreifacher Stacheldrahtbewehrung zu errichten.
Oppenheimer stellt kopfschüttelnd fest, dass ihm in dieser engen Schlucht mit den steil aufragenden, rotbraunen Wänden die Aussicht auf die umliegenden Berge verwehrt bleibe. Hier habe Dudley die Vorstellung, vom Erdboden verschluckt zu werden, wohl eine Spur zu wörtlich genommen. Aber er kenne einen Ort, gar nicht weit von hier, der Abgeschiedenheit, wilde landschaftliche Schönheit und einzigartige Sicht auf ein Bergpanorama aufs glücklichste miteinander verbinde.
Oppenheimer, Groves und Dudley rumpeln über schlecht befestigte Bergstraßen, durch Espen- und Kiefernwälder zur Hochebene des Valle Grande – mit 20 Kilometern Durchmesser der größte Vulkankrater der Welt, umrahmt von Dreieinhalbtausendern. Danach geht es steil bergauf zum Pajarita-Plateau der Jemez-Berge. Kurz vor dem Ziel öffnet sich eine weite Ebene mit Kakteen, Krüppelkiefern und Wacholdersträuchern. Sie ist durchzogen von tiefen Schluchten. Zwischen ihnen erstrecken sich Hochplateaus, die wie Finger einer riesenhaften Hand nebeneinanderliegen und auf das nahe Tal des Rio Grande im Osten zu zeigen scheinen. Auf einem dieser Hochplateaus steht die Los Alamos Ranch School, benannt nach dem spanischen Namen für die Pappeln, die den Bach auf dem Grund des Canyons säumen. Seine Wände fallen steil ab und sind von rotgoldenen Querbändern durchzogen. Auf einem Reitausflug im Sommer vor 20 Jahren war der Teenager Oppenheimer erstmals zu dem Elite-Internat gekommen, wo Großstadtjungen 2200 Meter über dem Meeresspiegel ein spartanisches Leben führten.
Am Nachmittag des 16. November 1942 hat es den Anschein, als sei auch der General von der rauen Schönheit des Ortes fasziniert. Dieses Plateau ist zwar nicht unmittelbar von schützenden Bergen umgeben. Aber dafür ist es selbst ein flacher Berggipfel mit fast senkrecht bis zu 700 Meter in die Tiefe stürzenden rotbraunen Felswänden an drei Seiten. Hier genießt man einen freien Blick über die nahezu menschenleere Ebene bis zu den schneebedeckten Rocky Mountains im Norden und zu der gezackten Bergkette Sangre de Cristo im Osten. Davor bahnt sich der Rio Grande seinen Weg. Hier und da säumen die ockerfarbenen Lehmziegel-Behausungen der Pueblo-Indianer das Flussbett. Die Stockwerke sind treppenartig versetzt und über Leitern zu erreichen, die an den Hauswänden lehnen. Am Fuß des Sangre de Cristo haben auch Robert Oppenheimer und sein Bruder Frank eine Hütte. Sie ist bewusst spartanisch eingerichtet. Eine selbstgelegte Wasserleitung ist der einzige Luxus.
Zur Los Alamos Ranch School gehören insgesamt 54 Häuser, Schuppen, Scheunen und Stallungen [Hun:16]. Schüler, Lehrerfamilien und Angestellte wohnen das ganze Jahr über hier. Manch erfolgreicher Industriekapitän und Politiker hat hier körperliche Ertüchtigung und Selbstdisziplin gelernt. Auch einige Ingenieure des MED sind unter den Absolventen des Internats. Aber offenbar bekommt das forcierte Pfadfinderleben, das selbst im Winter in kurzen Hosen stattfindet,
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