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Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe

Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe

Titel: Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hubert Mania
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erträglicher zu machen. Neben Rauch und Ruß verschleiert auch überall aufwirbelnder Graphitstaub das Licht. Der Betonfußboden ist nach der Verarbeitung von fast 400 Tonnen Graphit mit einer schlüpfrigen, glänzend schwarzen Schicht überzogen und zu einer Schlitterbahn geworden. Mundschutz ist unbeliebt, und so atmen die Mitarbeiter den Graphitstaub ein. Da Manpower in Kriegszeiten rar ist, verdienen sich 30 jugendliche Schulabbrecher und Streuner aus dem Schlachthofviertel von Chicago hier ein paar Dollar. Sie pressen das Uranoxid in runde Gussformen. Neben der Presse steht ein Käfig mit Mäusen als lebendige Alarmanlage. Wenn die Tiere 24 Stunden am Tag das Uranoxidpulver einatmen und vertragen sollten, ohne krank zu werden, wären – so die Überlegung – die Leute mit ihren 12-Stunden-Schichten an der Presse auch nicht gefährdet [Wat:27].
    Etwas abseits steht der graue Würfelballon von Goodyear mit gut acht Metern Kantenlänge. Seine untere Fläche berührt den Fußboden, die obere ist an der Decke der Halle befestigt. Eine der sechs Gummibahnen ist wie ein Zelteingang hochgerollt. Und im Inneren wölbt sich, stabilisiert durch Blöcke aus Kiefernholz, das Graphitei, eine abgeplattete Kugel von acht Metern Durchmesser und sechs Metern Höhe. Bis jetzt haben Teams von Physikern, Zimmerleuten, Studenten und Hilfskräften, die in den Sinn des seltsamen Geschehens hier nicht eingeweiht sind, mehr als 40   000 Graphitziegel rund um die Uhr auf eine einheitliche Größe gesägt, geschliffen und schichtweise übereinandergestapelt. Sie haben 19   000 Löcher in die Ziegel gebohrt, um 35 Tonnen Uranoxid und fünf Tonnen Uranmetall in Form von 22   000 Kugeln und Zylindern in den Graphit einzubetten [Rho:436;441]. Die Ballonhülle ist der Joker des Experiments. Sollte der Reinheitsgrad des Graphits doch nicht ausreichen, um eine Kettenreaktion in Gang zu setzen, will Fermi den Reaktor im Ballon einschließen und ein Vakuum erzeugen, sodass die Luft aus den winzigen Vertiefungen der porösen Graphitmasse abgesaugt werden kann. Denn die trägt zur Absorbierung der Neutronen bei [Fer:200].
    Die Positionen der eiförmigen Zylinder aus energiereicherem Uranmetall sind nicht dem Zufall überlassen. Sie sind exakt berechnet und häufen sich im Zentrum des Reaktors rund um die Neutronenquelle. Durch das massive Graphitgebilde laufen Kanäle für die Kontrollstäbe. Das sind vier Meter lange flache Latten aus Buchenholz, die mit Cadmiumblech ummantelt sind. Cadmium eignet sich ausgezeichnet, um Neutronen zu absorbieren, und so können die Stäbe die Gefahr einer unkontrollierbaren Kettenreaktion abwenden. Nach jeder neu angehäuften Schicht werden die Kontrollstäbe herausgezogen, um die Neutronenintensität zu messen. Nach Fermis Berechnungen müsste mit dem Aufbau der 56. Schicht der Reaktor kritisch werden. Doch um sicherzugehen, entscheidet er sich für eine zusätzliche Lage.
    In der Nacht vom 1. zum 2. Dezember 1942 beaufsichtigt Herbert Anderson den Aufbau der 57. Graphitziegelschicht. Er lässt die Cadmiumstäbe bis auf einen herausziehen und stellt fest, dass nur noch diese letzte Blockade eine Kettenreaktion im beinahe kritisch gewordenen Meiler verhindert. Doch der jetzt zum Greifen nahe Augenblick des Triumphs soll natürlich – so ist es abgesprochen – erst in Fermis Anwesenheit gefeiert werden.
    Am nächsten Morgen zeigen die Thermometer minus 20 Grad Celsius an. Enrico Fermi, Herbert Anderson und Leona Woods, die einzige Frau im Met-Lab-Team, stapfen nach einem gemeinsamen Pfannkuchenfrühstück durch den knirschenden Schnee zum verwaisten und zerfallenden Footballstadion an der Ellis Avenue. Seit zwei Tagen ist das Benzin rationiert. Daher herrscht auch kaum Verkehr. Wer heute in dieser Gegend Chicagos freiwillig unterwegs ist, muss schon etwas Wichtiges vorhaben. In der Squashhalle unter der Westtribüne ist alles für das große Experiment vorbereitet. Impulszählgeräte sollen die Messung der Neutronenvermehrung hörbar machen. Drei Studenten stehen als mutiges «Selbstmordkommando» auf dem Lastenaufzug direkt unter der Hallendecke. Sollte die Kettenreaktion doch noch außer Kontrolle geraten, müssen sie ihre drei mit Cadmiumsulfat gefüllten Kanister über dem Reaktor ausschütten.
    An der gegenüberliegenden Wand ist eine kleine Empore errichtet worden, auf der jetzt vielleicht zwei Dutzend Zuschauer in ihren Wintermänteln stehen, unter ihnen auch Arthur Compton, der Leiter des Met

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