Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
Christian Soldiers» anfeuert [Rho:44].
Zwischen 1910 und 1912 widmet sich Ernest Rutherford wieder einem alten Problem, mit dem er sich bereits in Montreal beschäftigt hatte, der Wechselwirkung energiereicher Strahlung mit Materie. Wenn ein Alphateilchenstrahl durch eine dünne Metallfolie dringt, wird der Strahl unscharf. Offenbar werden ein paar Alphateilchen auf dem Weg durch die Metallatome abgelenkt. Was auf enorme elektrische Kräfte innerhalb des Atoms schließen lässt. Hans Geiger und der 21-jährige Student Ernest Marsden sollen dieses Phänomen nun etwas genauer unter die Lupe nehmen. In ihrer Versuchsanordnung müssen sie allerdings wieder zur konventionellen Beobachtung der Lichtblitze zurückkehren, da die gesuchten Streuungen automatisch nicht erfassbar sind. Es gehört schon ein menschliches Gehirn dazu, um die Abweichungen zu registrieren. Die Lupe der Erstversuche von Elster und Geitel ist längst durch ein Mikroskop mit 70-facher Vergrößerung ersetzt worden, an dessen Ende der Zinksulfidschirm angebracht ist. Mit diesem aufgeschraubten Schirm ragt das Mikroskop in eine Vakuumkammer hinein, in der eine dünne Goldfolie aufgespannt ist, dahinter steht die Radonquelle.
Es ist ein mühsames Geschäft, auf das sich die beiden Physiker da eingelassen haben. Sie müssen 80 000 geradlinig durch die Goldatome sausende Alphateilchen mit dem Auge abzählen, um eine Hand voll Partikel zu erwischen, die zur Seite abgelenkt werden. Ab und zu registrieren sie aber auch eine Streuung um einen Winkel, der beinahe auf einen Rückflug des Alphateilchens zu seiner Radonquelle schließen lässt. Das erst bei dieser sorgfältigen Beobachtung der Lichtblitze entdeckte Phänomen ist Rutherford und seinen Assistenten ein Rätsel. Es stellt alle herkömmlichen Ansichten von der Beschaffenheit des Atoms in Frage. Eine gleichmäßige Verteilung der Atommasse muss nach diesen Befund ausgeschlossen werden. Es ist, wie Rutherford später einmal formuliert hat, «fast so unglaublich, als habe man eine 40-Zentimeter-Granate auf einen Bogen Seidenpapier abgefeuert, und nun mache das Geschoss kehrt und treffe einen selbst» [Cam:332].
Geigers Messergebnisse und Langzeitstatistiken lassen den Schluss zu, dass im Innersten des Goldatoms dessen Masse auf allerkleinstem Raum konzentriert ist. Wenn nun ein Alphateilchen mit einer Geschwindigkeit von 20 000 Kilometern pro Sekunde auf diesen inneren Kern trifft, wird es von dessen starker elektrischer Ladung im Flug gestoppt und mit beschleunigtem Rückstoß zu seiner Quelle zurückgeschleudert. Alle anderen, dem Kern lediglich nahe kommenden Alphateilchen werden mehr oder weniger stark von ihrer geradlinigen Flugbahn abgelenkt. Wenn aber von 80 000 Alphastrahlen fast alle ungehindert durch die Goldfolie fliegen, dann muss das Atom zum größten Teil aus Leere bestehen. Und da dieser Kern, der «Nukleus», wie Rutherford das hypothetische Gebilde nennt, so selten getroffen wird, muss er auch unvorstellbar klein sein. Einfache Verhältnisrechnungen führen Rutherford, Geiger und Marsden zu verblüffenden Einsichten in die atomaren Dimensionen. Ist das Atom schon nicht größer als ein hundertmillionstel Zentimeter, dann muss der Nukleus noch einmal um 10 000 Größenordnungen kleiner sein.
Hier, im Physikalischen Institut der Universität Manchester, nimmt gerade eine völlig neue, wenn auch noch etwas verschwommene Vorstellung von der Struktur des Atoms Gestalt an. Nach Rutherfords Auffassung vereinigt der Kern fast die gesamte Atommasse auf sich. Er ist positiv geladen, während die Elektronen die äußere Hülle des Atoms bilden und negativ geladen sind. Wo sonst, wenn nicht in diesem winzigen Kern des Atoms, könnte bei radioaktiven Elementen der Zerfall stattfinden? Wo sonst, wenn nicht dort, sollte wohl die gewaltige atomare Energie verborgen sein? Die Radiochemie scheint sich gerade zu einer «nuklearen» Wissenschaft zu entwickeln, nämlich zur Lehre vom Atomkern.
Otto Hahn gehört zu den ersten Wissenschaftlern, die die aufregend neue Vorstellung vom Atom aus dem Mund seines ehemaligen Lehrers selbst erfahren. Sie begegnen sich im März 1912 in Paris als Teilnehmer einer Konferenz der Internationalen Radium-Kommission. Marie Curie präsentiert dort 22 Milligramm hochreines Radium, eingeschmolzen in ein Glasröhrchen, als internationalen Radiumstandard. Wie der Urmeter soll es nun im Bureau International des Poids et Mesures in Sèvres nahe Paris deponiert
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