Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
mit einem Uranoxydgehalt von 43 Prozent stecken. Eng am Körper getragen, soll das Präparat rheumatische Erkrankungen wegstrahlen. In den Pensionen und Hotels des aufblühenden Radium-Kurorts St. Joachimsthal wird täglich frisches Brot, Gebäck und sogar Bier mit Radonzusätzen serviert. Ein Pharmazieunternehmen wirbt für sein Produkt mit dem Packungshinweis: «Als Beweis für die biologische Wirksamkeit diene die Tatsache, dass eine Bestrahlung in der Dauer von einer halben bis zu einer Minute genügt, um auf der menschlichen Haut eine Rötung hervorzurufen» [Bra:122]. Und das österreichische Radiumwerk Neulengbach verkauft seinen radioaktiven Heilschlamm als Pulver in Fünf-Kilo-Kistchen für das heimische Badezimmer und verspricht: «Bei längerem Gebrauch überraschende Dauerwirkungen» [Bra:87].
Bei so viel Geschäftstüchtigkeit und sorgloser Begeisterung für das neue Therapeutikum gerät der Nachschub für die wissenschaftliche Forschung schon mal ins Stocken. Als Ernest Rutherford 1907 von Montreal nach Manchester umzieht, sucht er händeringend nach einer akzeptablen Menge Radium für eine besondere Versuchsreihe, die ihm vorschwebt. Schließlich gelingt es ihm, eine Vereinbarung mit der Wiener Akademie der Wissenschaften zu treffen. Er erhält 0,4 Gramm Radiumchlorid als Dauerleihgabe – eine Großzügigkeit, die Geschichte schreiben wird. Denn hier trifft eine winzige Menge lichterfüllter Materie, befreit aus vielen Tonnen schweren, pechschwarzen Gesteins, auf die einzigartige Vorstellungskraft eines Genies. Und dieser ungewöhnlichen Begegnung zum rechten Zeitpunkt verdankt die Physikergemeinde die erste bedeutende Einsicht in die innere Struktur des Atoms.
Fast hätte Rutherford den idealen Mitarbeiter für seinen Coup verpasst, denn Hans Wilhelm Geiger, ein 25-jähriger Doktorand aus Neustadt an der Weinstraße, hat gerade sein einjähriges Praktikum am Physikalischen Institut der Universität Manchester beendet und packt schon seine Koffer für die Rückkehr nach Deutschland. Nachdem der joviale Rutherford ihn in ein Gespräch verwickelt und seine herausragenden Fähigkeiten als Experimentator erkannt hat, macht er ihm das Angebot, sein Assistent zu werden. Zunächst geht es Rutherford um die Verbesserung der Zählung von Alphateilchen, die einer radioaktiven Substanz entweichen. Ein elektrischer Apparat soll das nun übernehmen und das Auge entlasten. Inspiriert von den Ideen des Chefs, entwickelt Geiger eine elektrische Versuchsanordnung, aus der schließlich der sogenannte «Spitzenzähler» hervorgeht, die Urform des Geigerzählers. Mit dem neuen Apparat stellen Rutherford und Geiger fest, dass einem Gramm Radium 34 000 000 000 Alphateilchen pro Sekunde entweichen.
Dem Alphameister ist bewusst, dass er mit Hans Geiger hier einen ersten internationalen Standard für Radioaktivität gesetzt hat. Daraufhin erfüllt er sich einen lange gehegten Wunsch und gönnt sich ein Automobil von Wolseley mit vier Sitzen und 15 PS. Die Fabrik lässt den Wagen von einem Chauffeur liefern, der drei Tage bei den Rutherfords wohnt und dem Hausherrn Fahrstunden gibt. Aber nicht nur seine Frau May und Tochter Eileen kommen in den Genuss von Spritztouren. Regelmäßig lädt der Institutschef seine 20 Mitarbeiter aus Japan, Russland, Deutschland, Amerika und England in Dreiergruppen zu motorisierten Ausflügen mit verwegenen 40 Stundenkilometern Spitzengeschwindigkeit aufs Land ein. Chaim Weizmann, der spätere Präsident Israels, arbeitet zu der Zeit als Biochemiker an der Universität Manchester und schildert Rutherford als «jung, energisch, ungestüm … Es gab nichts unter der Sonne, über das er nicht schnell und lebhaft sprach, sehr oft ohne etwas davon zu verstehen. Wenn ich zum Mittagessen ins Refektorium ging, hörte man seine laute, gutmütige Stimme durch alle Korridore schallen» [Wei:181]. Offenbar fand Rutherford diesen eigenen Charakterzug auch in anderen Menschen widergespiegelt. Über einen ganz besonderen Spezi schreibt er nämlich: «Lord Kelvin hat den ganzen Tag über Radium geredet, und ich bewundere das Selbstbewusstsein, mit dem er über ein Thema spricht, von dem er so gut wie nichts versteht» [Cam:281]. Einer seiner Studenten sieht in ihm einen «Stammeshäuptling», der für jeden Scherz zu haben ist, der rotwangig und mit strahlend blauen Augen durchs Labor marschiert und seine Studenten – nicht schön, aber laut singend – mit dem Kirchenlied «Onward
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