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Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe

Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe

Titel: Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hubert Mania
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werden. Der dreiunddreißigjährige Professor Hahn gilt mittlerweile als einer der führenden Radiochemiker der Welt. Vor einem Jahr hatte er auf einer Dampferfahrt in der Stettiner Bucht seine Braut Edith Junghans kennengelernt, die er bald heiraten will. Vielleicht werde dann auch, so hofft er, das Getuschel hinter vorgehaltener Hand im Institut endlich aufhören. Denn Hahn arbeitet seit Ende 1907 mit einer Frau zusammen, einem österreichischen Fräulein Doktor.
    Lise Meitner, die Tochter eines jüdischen Rechtsanwaltes, ist die zweite Frau, die an der Wiener Universität promoviert wurde. Eigentlich lehnt Direktor Emil Fischer Akademikerinnen an seinem Institut grundsätzlich ab. Mit dieser Einstellung steht er im Einklang mit den preußischen Hochschulgesetzen, die einer Frau praktisch keine Universitätskarriere ermöglichen. Doch für Lise Meitner macht Fischer eine Ausnahme. Sofern sie sich nur in Hahns Holzwerkstatt aufhalte und die Experimentier- und Hörsäle der Studenten nicht betrete, dürfe sie am Chemischen Institut arbeiten. Selbstverständlich nur als Gast und auf eigene Kosten. Offenbar verstehen sich Hahn und Meitner blendend. Da bleiben Klatsch und Tratsch nicht aus. Und so klingen Hahns Lebenserinnerungen an dieser Stelle auch fast schon wie ein nachträgliches Dementi: «Von Gemeinsamkeiten zwischen uns, außerhalb des Instituts, konnte keine Rede sein. Lise Meitner hat noch ganz die Erziehung einer höheren Tochter genossen, war sehr zurückhaltend und fast scheu … Ich habe mit Lise Meitner viele Jahre lang außerberuflich nie zusammen gegessen. Wir sind auch nicht gemeinsam spazierengegangen … Lise Meitner ging nach Hause, und ich ging nach Hause. Dabei waren wir doch herzlich miteinander befreundet» [Hah 2 :86]. In seiner Freizeit aber gibt Hahn sich gesellig, trifft sich regelmäßig mit Kollegen zum Gedankenaustausch und – er singt. Animiert von den Liedern, die Lise Meitner bei ihren stundenlangen gemeinsamen Messungen vor sich hin summt – Brahms, Schumann und Wolf –, wird er Mitglied in dem akademischen Gesangskränzchen «Heiserer Fasan», in dem die Damen in der Überzahl sind. Hahn schwärmt von der amourösen Atmosphäre. Aber er spekuliert, zumal er ja inzwischen verlobt ist, auf etwas anderes, denn mit von der Partie sind auch «die Nichten Plancks, die Töchter Harnacks … Damen aus guten Kreisen, und es war nicht leicht, in die Familien aufgenommen zu werden» [Hah 2 :89   f.].
    1911 wird, auf Anregung des Theologen Adolf von Harnack, Vaters der drei gesangsfreudigen Töchter im «Heiseren Fasan», die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der wissenschaftlichen Grundlagenforschung gegründet. Als erste Einrichtung wird im Oktober 1912 das Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie mit Emil Fischer als Direktor in Berlin-Dahlem eingeweiht. Otto Hahn soll dort die Abteilung für Radioaktivität leiten. Lise Meitner wird eingeladen, auch im Neubau auf der grünen Wiese mit Hahn weiterzuarbeiten. In dieser Zeit des Umbruchs und Neuanfangs für die Wissenschaften in der deutschen Hauptstadt verbreiten sich auch die ersten Nachrichten einer vielversprechenden neuen Theorie, die Frederick Soddy entworfen haben soll. Sie lässt manche unerklärliche Eigenschaft radioaktiver Stoffe plötzlich plausibel erscheinen. 1911 waren bereits mehr als 20 neue radioaktive Elemente gefunden worden, die in dieser ungeahnten Vielzahl das periodischen System wie ein zu enges Korsett erscheinen ließen.
    Die Grundidee klärt nun offenbar manche bisherige Ungereimtheit auf. Soddy geht davon aus, dass alle radioaktiven Elemente wie Uran, Radium und Thorium unterschiedliche Atomsorten haben, die später «Isotope» genannt werden. Sie zeichnen sich zwar durch die gleichen chemischen Eigenschaften aus, doch in ihrer physikalischen Beschaffenheit unterscheiden sie sich durchaus voneinander. Nähme man Soddys Theorie ernst, dann hätte Otto Hahn 1905 bei Ramsay in London mit seinem Radiothor kein neues radioaktives Element entdeckt, sondern nur eine bisher unbekannte, zusätzliche Atomsorte des Thoriums. Auch Hahns andere Entdeckung, das Mesothor, wäre dann kein neues Element, sondern lediglich eine andere Atomsorte des Radiums. Für alle Radium-Atomsorten gilt: Sie haben zwar unterschiedliche physikalische Eigenschaften wie eine individuelle Art des Zerfalls, eigene Halbwertszeiten und Atomgewichte. In chemischer Hinsicht unterscheiden sie sich allerdings nicht vom elementaren Radium. Otto

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