Kill Order
wuchs zwischen den zerbrochenen Steinplatten, Trichterwinden und Bougainvilleen überwucherten die Sträucher. Vor der gegenüberliegenden Wand war ein Baum umgestürzt und hatte einen Teil der Überdachung mit sich gerissen. Silbriges Moos zitterte im Wind.
„Wir hätten den Wein mitnehmen sollen.“ Sie drehte sich einmal um ihre Achse. „Dann könnten wir uns hier sinnlos betrinken.“
„Ein Glück, dass ich ein so vorausschauender Mensch bin.“ Er holte die Flasche aus der Innentasche seiner Jacke. Er wusste nicht genau, wo das hinführte, aber es fühlte sich gut an. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass es seine ursprüngliche Absicht gewesen war, Sofia diesen Ort zu zeigen. Sofia war vergessen. Er breitete sein Jackett im Gras aus und kniete sich auf den Boden, um den Wein zu entkorken.
„Wo hast du die her?“
„Aus der Küche, wo sonst?“
„Du hast nicht noch irgendwo Gläser versteckt?“
„Man kann nicht alles haben.“ Er roch an dem Bukett. „Hm.“
Sie lächelte, ihre Augen glänzten. Fast wie früher. Er wartete, bis sie sich hingesetzt hatte und reichte ihr die Flasche.
„ Sa sdorowje “, murmelte sie. Auf die Gesundheit.
Ganz wie früher. Es versetzte ihm einen Stich.
Sie tranken immer abwechselnd aus der Flasche. Ihre Stimmung driftete ab in vertrauliche Albernheit. Es war der Wein, die Umgebung, die warme Luft, oder vielleicht auch nur eine Reaktion auf die Anspannung, mit der sie den nächsten Schritt erwarteten. Carmen zündete sich eine Zigarette an. Rafiq sah zu, wie sie in langen genussvollen Zügen rauchte. Der Wind trieb ihr eine Haarsträhne in die Stirn und als er diesmal seine Hand danach ausstreckte, wies sie ihn nicht zurück. Seine Finger verharrten nahe an ihrem Gesicht, und als sie sich nicht regte, folgten sie der Kinnlinie, hinunter zu ihrem Hals. Seine Hand zitterte. Sie blies den Rauch durch die Nase und drückte den Zigarettenrest auf dem Boden aus. Sie drehte den Kopf und sah ihn an, ihr Gesicht eine schweigende Maske.
„Wir sind erwachsene Menschen, nicht wahr?“
„Was?“
„Das bedeutet, wir können uns morgen noch in die Augen sehen und so tun, als wäre nichts geschehen.“
„Was immer du willst.“ Seine Stimme war heiser.
Ihr Mund verzog sich zu einem winzigen Lächeln.
12
W
äscheleinen überspannten die flachen Dächer von Tripoli. Zwischen Balkonen waren sie gezogen, über Straßenzüge hinweg, wanden sich zwischen Strommasten und Satellitenschüsseln hindurch, und sprenkelten das graue und ockerfarbene Mauerwerk mit leuchtenden Farben.
Es war Mittag. Aus den Lautsprechern quäkte der Singsang der Muezzine. Allah akbah – Allah ist groß. Hitze ließ das Panorama zu Nikolajs Füßen verschwimmen. Der Verkehrslärm war unten in den Straßen zurückgeblieben, ebenso wie die betriebsame Hektik und der Gestank der Abgase. Hier oben war nur die Hitze, das harte Mittagslicht und das Zirpen der Grillen auf dem grasbewachsenen Abhang, aus dem die alten, vielfach erneuerten Mauern von Qala'at Sanjil, der Zitadelle von Tripoli emporwuchsen.
Nikolaj hatte sich im dürftigen Schatten eines Wehrturms niedergelassen. Ein paar Meter entfernt kletterten Kinder auf dem Wall. Im Hof trieben sich ein paar Touristen herum, doch er war sich inzwischen sicher, dass sie sich nicht für ihn interessierten. So wie er auch sonst nichts Verdächtiges hatte entdecken können in den vergangenen Tagen.
Das brachte ihn aus dem Konzept.
Er hatte seine Zeichenutensilien mitgenommen, einen Skizzenblock, ein paar Stifte und Kreiden. Der Block ruhte auf seinen Knien, das Papier weiß und unberührt. Geistesabwesend starrte er hinunter auf die Stadt. Er war sich absolut sicher gewesen. Sie hätten reagieren müssen. Doch er fand nicht das geringste Indiz für eine Beschattung. Niemand hatte versucht, sein Hotelzimmer zu verwanzen. Sie waren einfach verschwunden.
Das ergab keinen Sinn. Vielleicht hatte er ja auch den Bezug zum normalen Leben verloren. Vielleicht war es wirklich nur Paranoia gewesen, seine Überreaktion auf eine zufällige Konvergenz von Ereignissen. Er klappte den Skizzenblock zu. Morgen früh würde er über Byblos weiterfahren nach Beirut. Eine Küstenrundreise wäre nicht glaubwürdig, wenn er Beirut aussparte. Und dann? Drei oder vier Tage weiter nach Süden, Saida und Tyros. Danach konnte er sich entscheiden, nach Hawqa zurückzukehren. Oder er begann mit der Suche nach einem neuen Refugium, weil Hawqa nicht länger sicher
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