Kill Order
war.
Er erhob sich von den Treppensteinen. Mit den Ellenbogen stützte er sich auf die aufgeheizten Steine der Mauer. Seit Tagen dachte er über mögliche Schlupfwinkel nach. Europa kam nicht in Frage. Den Polizeibehörden der EU-Mitgliedsländer lag ein gültiger Haftbefehl gegen ihn vor. Asien war eine denkbare Option. Indien vielleicht, oder Thailand. Er konnte sich in einer der Aussteigerkommunen niederlassen. Niemand würde sich für seine Vergangenheit interessieren. Ja, das war eine Möglichkeit.
Der Gedanke, das Haus in Hawqa aufzugeben, bereitete ihm fast körperlichen Schmerz. Aber das war gerade die Gefahr. Wenn man zu viel Liebe an einen Ort konzentrierte, oder auf einen Menschen. Es nahm einem die Freiheit spontaner Entscheidungen, und damit wurde es zum Sicherheitsproblem.
Er schirmte die Augen mit dem Handrücken gegen die Sonne ab und fragte sich, was hätte anders laufen müssen. So vieles. Wann hatte es begonnen, sich abzuzeichnen? Das war nicht erst Berlin gewesen. Als Anna etwas mit dem belgischen Fotografen angefangen und er den Fehler gemacht hatte, es zu ignorieren? Oder als sie begonnen hatten, sich voneinander zu entfremden? Wann war ihm die Erkenntnis gekommen, dass die Heirat ein Fehler war? Im Grunde musste er viel weiter in der Zeit zurückgehen. Denn am Anfang stand die israelische Rakete, die unter dem Wagen seines Vaters detoniert war, im Sommer des Jahres 1982.
Das hatte alles geändert. Bis zu diesem Moment war Nikolaj Fedorow, Sohn eines russischen Botschaftsattachés und einer libanesischen Intellektuellen, ein ganz normaler zwölfjähriger Junge gewesen, der später einmal Malerei studieren und in die Fußstapfen seines Vaters hatte treten wollen.
*
Die Warterei zerrte an Rafiqs Nerven.
Carmen gab sich betont kühl und ging ihm aus dem Weg. Nach der gestrigen Nacht hatte sich nichts geändert, obwohl er das im Stillen gehofft hatte. Sie hielt sich an die Vereinbarung und erwartete, dass er das ebenfalls tat. Sich in die Augen zu sehen, als wäre nichts gewesen. Das schmerzte.
Sie warteten weiter auf Neuigkeiten aus Tripoli. Alle waren sie in dieser fiebrig-trägen Stimmung gefangen, in der sich jeder Gedanke, jede noch so kleine Handlung auf ein einziges Ziel zu konzentrieren scheint.
Seltsam, wie fremd ihm die Stadt geworden war. Das Beirut vor dem Krieg war nicht das Beirut nach dem Krieg. Die Mischung aus Schutt und modernen Glasfassaden, die neuen Hotels und Boutiquen und die Hochglanzclubs hatten nichts mehr mit den Orten seiner Kindheit gemein.
Er dachte an die Schule in Hamra. Der Winkel hinter der Tankstelle kam ihm in den Sinn, wo sie als Kinder Fußball gespielt hatten, ein alter Parkplatz voller Ölflecken. Grasbüschel zwischen gesprungenen Betonplatten. Sie waren nach der Schule dort hingegangen, und manchmal kamen die Mädchen mit, um beim Spiel zuzusehen. Rafiq dachte an den Tag, an dem er den Russen zum ersten Mal bewusst wahrgenommen hatte. Der Junge hatte sich ihnen einfach angeschlossen, und als sie anfingen, sich in zwei Mannschaften aufzuteilen, fragte er kaum hörbar, ob er mitspielen könne. Nikolaj war sein Name. Er erwies sich als passabler Tormann, deshalb fragte Rafiq ihn beim nächsten Mal, ob er nicht wieder in seiner Gruppe spielen wolle. Nikolaj erzählte nicht viel von seiner Familie, aber Rafiq merkte schnell, dass etwas nicht stimmte. Der russische Junge hatte es nie eilig, heimzukommen. Er wollte seinen neuen Freund auch nicht seinen Eltern vorstellen, obwohl Rafiq ihn schon ein paar Mal mit ins Haus seines Vaters genommen hatte.
Das Telefon klingelte, die Bilder der Vergangenheit zerfaserten. Rafiq sah auf. Katzenbaum griff nach dem Hörer. Es war ein kurzes Gespräch. Oder eigentlich kein Gespräch, vielmehr ein Zuhören. Er legte auf und richtete seinen Blick auf Rafiq. „Nicolá Martin hat das Hotel verlassen.“
„Und nun?“
„Sami und Alex hängen an ihm dran.“
„Was ist, wenn er sie bemerkt?“
Katzenbaum schüttelte den Kopf. „Sie gehen kein Risiko ein.“
„Wissen sie, wo er hin will?“, fragte Tal von der Küche her.
Katzenbaum drehte sich zu ihm um. „Nicht genau.“
Sie nahmen an, dass er in Beirut absteigen würde, vielmehr, sie hofften es. Sofia hatte eine Liste aller gehobenen Hotels in Beirut angefertigt. Sie hatten eilig ein Apartment angemietet und mit Möbeln und persönlichen Gegenständen eingerichtet. Carmen hockte auf dem Balkon und lernte die Details ihrer Identität auswendig. Durch
Weitere Kostenlose Bücher