Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kill Order

Kill Order

Titel: Kill Order Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Gunschera
Vom Netzwerk:
gehörte untrennbar die Zigarette im Mundwinkel, ebenso wie Che Guevara auf dem T-Shirt und ein zerdrücktes Batiktuch mit indischen Folkloremustern, das man sich wahlweise um Stirn, Hals oder in die Haare knoten konnte. Scheiße, dachte sie, wir werden nicht jünger.
     
    Auf dem Weg zurück zum Tisch hatte sie Glück. Der Mann war aufgestanden, um die Zeitung zurückzubringen. Auf halber Strecke trafen sich ihre Blicke und diesmal blieben sie aneinander hängen. Carmen musste ihre Überraschung nicht spielen. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Mitten im Schritt hielt sie inne und starrte ihn an. Wie aus weiter Ferne registrierte sie, dass es in seinem Gesicht arbeitete, dass auch er mehr sehen musste als eine attraktive Unbekannte in einem Beiruter Lokal. Es waren seine Augen. Diese Augen, die sie zurück katapultierten in eine Zeit aus Staub, grobschlächtigem Arabisch und barfüßigen Flüchtlingskindern, Waffenöl und Korditgestank, in eine Zeit voller Revolutionsromantik und Weltverbesserungsideen. Die Jahre hatten Spuren in sein Gesicht gegraben. Er trug seine Haare länger, Kinn und Wangen waren bedeckt von einem dunklen Bartschatten. Nur seine Augen hatten sich nicht verändert. Dann, eine Sekunde später schlug sie wieder in der Gegenwart auf. Sie stand da und starrte ihre Zielperson an.
    Er durfte keinen Verdacht schöpfen, hämmerte es durch ihren Kopf. Er sollte sie bemerken, aber er durfte nicht den Eindruck gewinnen, dass diese Begegnung inszeniert war.
    Sie straffte ihre Schultern und sah abrupt zur Seite, so als sei ihr der Moment im Nachhinein peinlich. Mit ein paar schnellen Schritten war sie zurück an ihrem Tisch. Tal und Alex hatten sich in eine Diskussion über deutsche Autos vertieft. Sie griff nach ihrem Glas und trank hastig. Dass sie aufgewühlt war musste sie nicht vortäuschen.
    „Ist alles in Ordnung?“, fragte Tal höflich.
    „Ja, ausgezeichnet. Mir geht es gut.“ Unter gesenkten Wimpern hervor beobachtete sie, wie ihre Zielperson zum Tisch zurückkehrte, nicht ohne ihr noch einen Blick zuzuwerfen.
    Dann kamen die Kellner und servierten Mezze.
     
    *
     
    Nach dem Essen kehrte Nikolaj nicht zurück zum Hotel, obwohl das ursprünglich seine Absicht gewesen war. Ziellos folgte er der gewundenen Straße, bis er auf die Corniche traf, die palmengesäumte Uferpromenade. Er blieb an der Kaimauer stehen und betrachtete die Wellen, die sich schwarz an den Steinen brachen.
    Er hatte einen Geist gesehen.
    Seine Nerven spielten ihm einen Streich, das war die einzige Erklärung. Er war überreizt, hatte überreagiert. Die Frau im Restaurant hatte ihn angesehen, und zwar zu lange, um es auf ein zufälliges Zusammentreffen von Blicken zu reduzieren. Aber die Ähnlichkeit, mein Gott, einen Moment war er fest davon überzeugt gewesen, Carmen vor sich zu haben.
    Nein, Unsinn. Er hatte einen Flirtversuch missdeutet, mehr nicht. Schon wieder einer dieser seltsamen Zufälle, bohrte die Stimme in seinem Hirn. So etwas wie Zufall gibt es nicht. Und was, fragte er sich wütend, war dann in Berlin schief gelaufen? War das nicht eine Verkettung unglückseliger Zufälle gewesen? Carmen Arndt war tot. Es gab keine andere Möglichkeit.
    Was machte dann diese Frau hier in Beirut, die ihr glich wie eine Zwillingsschwester? Er starrte auf das Wasser hinab. Es war diese verdammte Stadt, das war alles. Der Ort seiner begrabenen Kindheit. Sie mochten die zerstörten Häuser zusammenschieben und den Schutt vor der Küste im Meer versenken, es änderte dennoch nichts daran, dass Beirut vor allem eine Heimat der Geister geworden war.
     
    *
     
    Carmen fuhr mit dem Taxi zu ihrer Unterkunft in Manara. Sie hatten eine kleine Wohnung in einem neu gebauten Apartmenthaus angemietet. Das Gebäude war groß und anonym. Hier war es normal, seine Nachbarn nicht zu kennen. Sie warf die schwere Teakholz-Tür hinter sich zu und schleuderte die Schuhe von den Füßen. Barfuß tappte sie in die Küche und setzte Teewasser auf. Dann ging sie hinüber ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Sie ließ sich auf das elegante Sofa fallen, zog die Beine an ihren Körper und lehnte ihr Kinn auf die Knie. Erschöpfung sickerte in ihre Muskeln, aber das hatte wenig mit körperlicher Anstrengung zu tun. Ein Gefühlschaos tobte in ihrer Brust.
    Sie selbst hatte sich nie in diesen Grad an Bruderhass hineingesteigert, den Rafiq kultivierte. Auch sie war von Nikolajs Verrat verletzt worden, aber das Wissen hatte nicht

Weitere Kostenlose Bücher