Kill Order
Suchtrupp, nach einem Fellachen mit seinen Ziegen, nach Nikolaj. Wann war er aufgebrochen? Sie war sich nicht sicher. Nervös fuhr sie sich mit der Zunge über ihre trockenen Lippen. Das war noch ein Problem. Es gab nichts zu trinken. Und ihre Essensvorräte beschränkten sich auf eine Handvoll Schokoriegel. Sie konnten sich hier nicht ewig verkriechen.
Carmen starrte auf ihre Armbanduhr und sah zu, wie der Sekundenzeiger das Rund vollmachte und dann der Minutenzeiger um eine winzige Einheit weiterrückte. Auf diese Weise zählte sie sechs Minuten. Am Horizont dämmerte eine weitere Nacht herauf. Und Nikolaj war noch nicht wieder aufgetaucht. Vielleicht wartete er die Dunkelheit ab, um ein Fahrzeug zu stehlen. Sie musste Geduld aufbringen.
Brüsk drehte sie sich um und zwängte sich zurück ins Innere der Höhle.
15
Beirut | Libanon, Gegenwart
D
ie Kopfschmerzen machten ihm jede Bewegung zur Qual. Hinter den Vorhängen staute sich die Sonne, die Luft fühlte sich warm und stickig an. Nikolaj drehte sich auf den Bauch und vergrub das Gesicht im Kissen. Er hatte einen Kater und er wusste, es würde nicht besser werden, wenn er im Bett liegen blieb. Obwohl der Gedanke verlockend war.
Mühsam stützte er sich hoch. Er tastete nach der Uhr auf dem Nachttisch und stieß dabei ein Glas um. Mit einem Fluch setzte er sich vollständig auf. Auf dem Teppich stand eine Whisky-Flasche, die zu drei Vierteln geleert war. Mein Gott, wann hatte er sich zuletzt so gehen lassen? Die vergangenen Jahre hatte er kaum noch Alkohol angerührt. Gestern Abend jedoch hatte er sich in seinem Zimmer verbarrikadiert, um sich systematisch zu betrinken. Er hatte sich nicht einmal entkleidet, bevor er auf dem Bett eingeschlafen war.
Steifgliedrig tappte er ins Bad, drehte den Wasserhahn auf und trank Leitungswasser aus den hohlen Händen. Mit feuchten Fingern fuhr er sich über das Gesicht und durchs Haar. Sein Spiegelbild zeigte ihm Augenringe. Geister und alte Geschichten. Daran änderte auch der Whisky nichts. Die Kristallflasche barg nur leere Versprechen. Was geschehen war, war geschehen. Die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen.
Vorsichtig bückte er sich und band seine Schuhe zu. Dann machte er sich auf den Weg ins Frühstücksrestaurant.
Er überflog den Raum beim Eintreten. Die meisten Gäste waren Geschäftsleute mit Anzügen und gebügelten Hemden und Mobiltelefonen. Sein Blick blieb für eine Sekunde an einem britisch aussehenden Paar hängen, das am Tisch gegenüber der Tür saß. Und dann fiel ihm die Frau ins Auge.
Sie saß mit dem Rücken zu ihm, gemeinsam mit einem blassen Mann, den er am Vorabend in der Lobby gesehen hatte. Später war er im Restaurant gewesen, zusammen mit der Frau, die ihn so fatal an Carmen erinnerte. Doch diesmal war das Licht nicht gedämpft, sondern hell und ungefiltert. Als sie den Kopf drehte, bemerkte er die rötlich schimmernde Haarsträhne, die ihr über die Wange fiel. Wie Spuren einer längst ausgewaschenen Farbe. Mit einem Ruck wandte er sich ab und steuerte einen Tisch neben dem Buffet an.
Die Kopfschmerzen brachten ihn fast um. Er bat den Kellner um Wasser und eine Packung Schmerztabletten. Seine Welt schwankte. Erstaunlich, wie Prioritäten sich verschieben konnten. Binnen zwölf Stunden war sein eigentliches Problem in den Hintergrund getreten. Er zwang sich, gleichmäßig zu atmen und registrierte aus dem Augenwinkel, dass die Frau aufstand. Ihr Begleiter sagte etwas, sie lachte. Es war ein vertrauter Klang, der ihn fast wahnsinnig machte. Mit einem Teller in der Hand steuerte sie das Buffet an.
Und dann sah sie ihn. Sie stockte mitten im Schritt. Ihm fiel auf, wie sorgfältig sie gekleidet war, der dunkle Rock und das leichte Jackett und darunter eine weiße Seidenbluse. In ihrem Gesicht arbeitete es. Sie setzte sich wieder in Bewegung, ging weiter zur Obsttheke und blieb erneut stehen. Abrupt drehte sie sich um und kam auf ihn zu. Auf ihrem Gesicht lag Unsicherheit, sie lächelte verlegen. „Verzeihung, kennen wir uns?“ Sie sprach Englisch mit einem leichten Akzent.
Nikolajs Verstand rutschte zurück in seine Angeln. Er spürte fast körperlich, wie Rädchen ineinander griffen, wie mit einem Schlag seine Paranoia zurückkehrte. Schärfer als beabsichtigt formulierte er seine Antwort: „Excusez-moi, Mademoiselle? Je ne comprends pas un mot.“
*
Carmen hielt mit Mühe ihr Lächeln aufrecht. Was sollte sie jetzt machen? Sie beherrschte nicht mehr als ein paar
Weitere Kostenlose Bücher