Kill Order
„Früher warst du nicht so empfindlich.“
„Arschloch.“
„So charmant wie eh und je.“
Sie schnaubte. Er ließ ihre Arme los und machte einen Schritt zurück. Carmen rieb sich die Handgelenke. „Müssen wir hier im Dunkeln stehen?“
„Komm doch rein.“ Er zog sie ins Innere der Ruine, in einen der wenigen Räume, der über intakte Wände verfügte. Der Schein der Straßenlampe fiel durch die Fenster und malte gelbe Rechtecke auf den Boden. Carmen blieb stehen. Ein Lächeln flackerte über ihr Gesicht. „Ist ja toll hier. Nette Einrichtung. Muss ein Vermögen gekostet haben.“
Sie war es. Sie redete wie Carmen, sie bewegte sich wie sie. Sein Herzschlag stieg ihm schmerzhaft in die Kehle. „Wir könnten zu mir gehen“, fuhr sie fort. „Ist gleich hier in der Straße. Ich habe Tee und frisches Obst in dem Beutel, den du mir aus der Hand geschlagen hast.“
Ihre Wohnung war geschmackvoll und teuer eingerichtet. Er blätterte durch den Stoß Zeitungen auf dem Tisch, während sie in der kleinen Küche Tee machte. Seine Füße sanken tief in den cremefarbenen Teppich ein, der den Boden im Wohnzimmer bedeckte. Neben dem Sofa prangte ein verwaschener Rotweinfleck. Davon abgesehen war der Boden makellos.
„Wie ist es so im Baugewerbe?“, rief er ihr zu.
„Was?“ Ihre Stimme ging unter im Geräusch aufkochenden Wassers. Kurze Zeit später betrat sie das Wohnzimmer mit zwei Gläsern und einer Teekanne. „Du bist sicher, dass du keinen Wein möchtest?“
„Offen gestanden hat mich dein Anblick gestern Abend derart schockiert, dass ich mich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken habe. Ich habe immer noch einen Kater.“
"Brauchst du Aspirin?"
Er schüttelte den Kopf. Sie schenkte Tee ein, ließ sich in den Sessel fallen und zog die Knie hoch. „Willst du dich nicht setzen?“
Er sah sie an, die blonden Haare, die blasse Haut mit den vielen Sommersprossen. In ihren Pupillen spiegelte sich die Deckenleuchte als weißer Lichtpunkt. Seit er ihre Wohnung betreten hatte, fühlte er einen Anflug diffuser Beklommenheit, die mit jeder Minute stärker wurde. Carmen gab sich auf distanzierte Art liebenswürdig. Sie behandelte ihn wie einen alten Freund, den man über die Jahre aus den Augen verloren und dann zufällig auf einer Party wiedergetroffen hat. Das irritierte ihn. Er betrachtete das Bücherregal an der gegenüberliegenden Wand. „Es geht dir gut, oder?“
„Ich kann nicht klagen.“
„Was machst du genau?“
„Meine Firma baut Wohn- und Bürohäuser. Ich kümmere mich um die Vermarktung der Immobilien.“
„Eine deutsche Firma?“
„Was sonst?“ Glas klirrte. „Passt doch perfekt zu meinem Profil.“
„Hm.“ Er studierte die Buchrücken. Ein paar Bildbände, ein Dutzend Taschenbücher, die meisten davon in englischer Sprache. Fachbücher über Tragwerkslehre und Konstruktion. Und Antoine de Saint-Exupéry, der kleine Prinz in einer deutschsprachigen Ausgabe mit abgegriffenen Ecken. Das Buch stand nicht ordentlich in der Reihe mit den anderen, sondern lag flach im Regal. Sein Unbehagen verstärkte sich, wie eine Magenverstimmung, die sich in Übelkeit verwandelt. Die höfliche Konversation wirkte als Katalysator, der Dinge ans Licht zerrte, die er vor langer Zeit begraben hatte. Sie sprachen über Nichtigkeiten, über Staub im Wind.
„Was machst du in Beirut?“, fragte sie. „Lebst du in der Stadt?“
Er schüttelte den Kopf.
„Besuchst du jemanden? Oder bist du geschäftlich hier?“
„Nein.“ Er trat einen Schritt auf sie zu. „Ich mache Urlaub.“
„Urlaub?“ Sie verzog die Lippen zu einem ungläubigen Lächeln. „Und was treibst du, wenn du gerade nicht im Urlaub bist? Also beruflich, meine ich.“
„Verschiedenes.“ Mein Gott, warum hatte er sich darauf eingelassen? Warum war er nicht einfach seinem ersten Impuls gefolgt und hatte das Weite gesucht, um möglichst viele Kilometer zwischen sich und diese Stadt zu bringen? Er hätte zum Flughafen fahren und den nächsten Flug nach Athen nehmen können. Warum musste er stattdessen diese Begegnung provozieren?
Weil er neugierig war. Weil er Fragen hatte, auf die nur sie eine Antwort wusste. Und weil er vor diesen Fragen nicht wieder davonlaufen wollte.
„Verschiedenes“, wiederholte sie spöttisch. „Klingt aufregend.“
Er schwieg eine Weile. Sein Mund war trocken. Dann blickte auf und sah ihr forschend ins Gesicht. „Was ist mit Rafiq?“
Sie stellte das Teeglas mit einer heftigen Bewegung auf der
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