Kill Order
drängten sich Oleanderbüsche. Carmen widersetzte sich, als er sie zur Brüstung zerrte. „Lass mich los“, keuchte sie.
„Spring“, sagte er dicht an ihrem Ohr.
Sie schüttelte heftig den Kopf. Er senkte die Waffe, packte sie um die Hüften und hob sie über das Gitter. Zweige brachen, als sie unten aufschlug. Einen Moment später landete er selbst zwischen den Büschen. Der Stoß schickte eine Schmerzwelle durch seine verletzte Schulter, was ihm sekundenlang die Orientierung raubte. Als er wieder klar denken konnte, hatte Carmen sich bereits aufgerichtet. Ihre Blicke trafen sich, sie drehte sich um und rannte los.
Er kam auf die Beine und setzte ihr nach, erwischte sie ein paar Herzschläge später, als sie auf dem feuchten Gras ausrutschte. Sie trat gegen sein Knie, als er ihren Arm packte, die andere Hand ballte sie zur Faust und schlug nach ihm. Nikolaj wich ihr aus und ohrfeigte sie. „Hilfe“, schrie sie. Ihre Stimme gellte durchdringend von den Hausmauern zurück. „Hilfe!“
Hastig schob er die Pistole in den Hosenbund, presste seine Hand auf ihre Lippen und erstickte ihre Stimme zu einem Keuchen. Er zog sie mit sich zum rückseitig gelegenen Tor, das auf eine Seitengasse hinausführte. Dieses Mal hatte er Glück. Das Tor ließ sich einfach aufklinken. Sie hasteten die Straße hinunter, an parkenden Autos vorbei.
Kälte breitete sich von seiner Schulter in den Arm und hinunter in den Brustmuskel aus. Sein Hemd war blutgetränkt, mehr Blut lief seinen Arm hinunter und sammelte sich klebrig zwischen seinen Fingern. Die Männer aus der Wohnung würden jede Sekunde hinter ihnen auftauchen. Er brauchte ein Auto.
Seine Gedanken zerfaserten, er konnte sich kaum noch konzentrieren. Eine Folge des Blutverlusts und des nachlassenden Adrenalins. Plötzlich fror er. Er blieb vor einem alten Ford Escort stehen. Mit dem Kolben der Pistole schlug er die Scheibe auf der Beifahrerseite ein. Glas splitterte, er griff hinein, löste die Verriegelung und riss die Tür auf.
Brüsk stieß er Carmen in den Wagen. „Rutsch rüber. Du fährst.“
„Vergiss es.“
Er schob den Sicherungshebel zurück und richtete die Pistole auf ihr Gesicht. „Ich kann dich auch erschießen und allein fahren.“
Sie straffte sich. In ihrem Blick las er, dass sie ihm aufs Wort glaubte. Mit eckigen Bewegungen zwängte sie sich hinter das Lenkrad. Er ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und zog die Tür zu. Noch immer war niemand aufgetaucht. Pures Glück. Aber das würde nicht ewig anhalten.
„Schließ das Ding kurz“, sagte er.
Mit zitternden Fingern riss sie die Plastikverkleidung unter der Lenksäule ab. Sie fand die Kabel auf der Rückseite des Lenkschlosses. Als die Kontakte sich berührten, sprang der Motor stotternd an.
Die Geisel
16
N
iemand hielt sie auf, als sie durch die nächtlichen Straßen fuhren, die Innenstadt hinter sich ließen und endlich die General Fouad Chehab Avenue erreichten, eine mehrspurige Promenade, die stadtauswärts führte.
Carmen umklammerte das Lenkrad, ihr Gesicht eine Maske, die Lippen zu einem Strich zusammengepresst. Nikolaj beobachtete sie aus dem Augenwinkel. Die Hand mit der Pistole lag auf seinem Oberschenkel. Der Blutverlust machte ihm zu schaffen. Er zitterte vor Kälte. Müdigkeit dämpfte seine Konzentration. Er zündete sich eine Zigarette nach der anderen an und rauchte hastig und unkonzentriert.
Sie verließen die Stadt und fuhren auf die Autobahn Richtung Norden. Kurz nach Mitternacht waren die Straßen fast leer. Von Zeit zu Zeit überholten sie einen Lastwagen. Lichter von der Gegenspur flogen vorbei wie leuchtende Perlenschnüre. O Gott, die Müdigkeit ...
Er richtete sich in seinem Sitz auf. Der Schmerz in seiner Schulter war zu einem dumpfen Pochen abgeklungen. Seine Gedanken drifteten. Eine Zeitlang kreisten sie um die Frage, was er mit Carmen tun sollte, wenn sie ihr Ziel erreicht hatten. Sie erschießen, die Leiche irgendwo verschwinden lassen? In den Bergen gab es unzugängliche Schluchten, Flüsse, die einen Körper schnell mit sich fort trugen. Er verfolgte den Gedanken für einige Minuten und stellte fest, dass sich alles in ihm dagegen sträubte. Unmöglich. Das brachte er nicht fertig. Warum hatte er sie nicht zurückgelassen? Er war angeschlagen, doch nicht so sehr, dass er nicht in der Lage gewesen wäre, einen Wagen zu steuern.
Warum also?
Wegen der Antworten. Wegen der Fragen, die er stellen wollte, über das, was geschehen war. Sie
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