Kill Order
Obwohl er angeschlagen war, war Nikolaj ihr körperlich überlegen. Jeden ihrer Fluchtversuche hatte er mit Leichtigkeit erstickt.
Dass ihre Wege durch die gemeinsame Vergangenheit miteinander verknüpft waren, verkomplizierte alles. Carmen wusste, dass sie befangen war. Jede seiner Handlungen, jedes Wort von ihm löste einen Wust widersprüchlicher Emotionen in ihr aus. Sie hatte verstehen wollen, was aus dem Nikolaj Fedorow ihrer Jugend geworden war. Doch das, was sie in den letzten vierundzwanzig Stunden herausgefunden hatte, verstörte sie zutiefst. Der Mann, der am Steuer saß, war ein Unbekannter. Er jagte ihr Furcht ein, eine sehr elementare und greifbare Form von Entsetzen. Todesangst.
Gerade jetzt fühlte sie sich besser, aber es hatte Augenblicke gegeben, gestern Nacht, in denen sie überzeugt gewesen war, dass er sie töten würde. Sie fühlte sich hilflos, weil sie ihn nicht einschätzen konnte. Sie wusste einfach nicht, wie weit sie gehen durfte, konnte seine Reaktionen nicht vorhersagen. Sie kannte Nikolaj und kannte ihn auch wieder nicht. Sie bezweifelte, dass es ihr gelang, ihn zu manipulieren. Was blieb ihr sonst noch an Optionen? Rafiq?
Er würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen. Er musste einfach. Dennoch durfte sie sich nicht zu sehr darauf verlassen. Rafiq musste sie zuerst einmal finden.
In diesem Moment trat Nikolaj hart auf die Bremse. Die Fliehkraft schleuderte sie gegen die Vordersitze. Schmerzhaft riss sie der Aufprall aus ihren Überlegungen.
*
Es war eine hastig errichtete Straßensperre direkt hinter der Kurve, zwei offene Militärjeeps, die quer auf der Fahrbahn standen. Im Augenblick, da Nikolaj abbremste, wusste er, dass er niemals unbeschadet diese Kontrolle passieren konnte. Nicht mit diesem Wagen, nach dem wahrscheinlich bereits gefahndet wurde, und vor allem nicht mit einer gefesselten Frau auf der Rückbank. Das Spiel war verloren, wenn er jetzt anhielt. Zwischen den Jeeps erfasste er uniformierte Männer, Soldaten mit automatischen Waffen.
Syrer, erkannte er plötzlich. Die Kerle gehörten der syrischen Besatzungsmacht an, die noch immer im Libanon stationiert war. Er rammte einen Gang ins Getriebe und setzte mit Vollgas zurück, bis zu der kleinen Haltebucht, die er gerade passiert hatte. Hektisch wendete er. In der Kurve tauchte einer der Jeeps auf. Im Rückspiegel zählte er vier Männer, die in dem Fahrzeug saßen.
Einen Herzschlag später zertrümmerte eine Feuergarbe die Heckscheibe.
*
Binnen Sekunden brach die Hölle los. Eine Woge von Glassplittern ergoss sich auf den Rücksitz. Geistesgegenwärtig ließ Carmen sich in den Fußraum rutschen. Der Motor drehte hoch. Sie spürte, wie der Taurus beschleunigte.
„Runter!“, brüllte Nikolaj überflüssigerweise.
Der Wagen schlingerte; ihr Atem ging in kleinen hektischen Stößen. Sie hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Es war wie damals, bei ihrem allerersten Einsatz, als die Syrer das Feuer eröffnet hatten. Die Fesseln an Händen und Füßen verstärkten nur ihre Panik. Egal was passierte, sie konnte nicht einmal weglaufen. Sie war nutzlos, nur eine Geisel, konnte nicht einmal ihr eigenes Gesicht vor den Glasscherben schützen. In ihren Ohren hallten die Feuerstöße der automatischen Waffen. Benzingestank breitete sich aus.
*
Mit einer Hand entsicherte Nikolaj die Beretta, während er mit der anderen den Wagen lenkte. Ein Schweißfilm bildete sich auf seinem Gesicht. Die Kerle im Jeep hatten Sturmgewehre, deren Feuerkraft die einer Handfeuerwaffe um ein Vielfaches übertrafen. Sein Nacken kribbelte. Jeden Augenblick erwartete er, dass ein Projektil in seinen Rücken schlug.
Überraschend stellten sie das Feuer ein. Doch die Atempause währte nur wenige Sekunden, bis eine neue Salve den Wagen erschütterte. Instinktiv duckte er sich im Fahrersitz. Eine Reihe von Projektilen zerfetzte die Deckenverkleidung. Die letzten Kugeln schlugen in die Frontscheibe und hinterließen Einschusslöcher in einem Kranz von Rissen.
Der Jeep war so dicht hinter ihm, dass er das Gesicht des Fahrers erkennen konnte. Er holte tief Atem und konzentrierte sich. Dann zog er mit einer abrupten Lenkbewegung auf die Gegenfahrbahn, brachte den Wagen wieder unter Kontrolle und trat mit aller Kraft in die Bremse. Der Ruck schleuderte ihn in den Gurt und nahm ihm fast den Atem. Der Mann am Steuer des Verfolgerfahrzeugs reagierte nicht schnell genug. Er bremste zu spät, der Jeep schoss am Taurus vorbei.
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