KillerHure
Nuance der herbreifen Aromen.
Thierry ist immer noch schweigsam, in sich zurückgezogen, bleibt mir rätselhaft. Aber Natalie rettet die Situation. Sie hat ihre anfängliche Reserviertheit mir gegenüber abgelegt und plappert nun in einem Fort über ihr Internat, über das Pony, das sie dort zusammen mit drei anderen Mädchen pflegen und reiten darf, über ihre besten Freundinnen Marie und Corinne, über ihre Klassenlehrerin, die schreckliche Madame Guillaume, über den letzten Ausflug, über den schlimmen Autounfall im Dorf im Frühjahr, und über tausend andere Details ihres Mädchenlebens mehr. Nur ihre Mutter erwähnt sie mit keinem Wort.
Ich versuche mich in der Rolle einer Vertrauen erweckenden älteren Schwester, zeige mich interessiert an allem, und werfe ab und zu einige meiner Erfahrungen aus der Schule und der Ausbildung als Grafikerin ein, sowohl erfundene als auch echte. So treibt unsere Konversation ziellos zwischen der Sitzplatzarithmetik eines Klassenzimmers, den jüngsten Skandalberichten über Boygroups in den einschlägigen Mädchenzeitschriften, der richtigen Behandlung von Pferden und dem Austausch von Lieblingsgerichten und –liedern hin und her.
Was mich dabei am meisten wundert: Ich genieße das sogar! Es macht einfach Spaß, mit Natalie zu reden, ihre ganz offene, direkte, unverstellte Art zu erleben, ihre graugrünen Augen vergnügt leuchten oder nachdenklich in die Ferne blicken zu sehen. Ein paar Mal ertappe ich mich bei dem sehnsüchtigen Gedanken, dass ich bestimmt auch mal so war. So jung, so frisch, so unschuldig. Aber ich weiß es beim besten Willen nicht mehr.
Natürlich habe ich Erinnerungen an die Zeit, als ich etwa so alt war wie Natalie heute. Gute und schlechte Erinnerungen. Doch sie sind wie alte Filme, ich kann sie abrufen und ansehen wie fremde Bilder. Es gibt keine Gefühle, die damit verknüpft sind. Sie sind wie säuberlich gereinigt von aller Freude, allem Spaß, allem Schmerz, der einmal damit einhergegangen sein musste. So als läge eine armdicke Platte aus Panzerglas darüber. Ich kann hindurchsehen und die Umrisse erkennen, aber alles bleibt vage, unscharf und seltsam neutral.
Natalies Berichte dagegen sind förmlich gesättigt von all den kaum gefilterten Emotionen, jeder Satz, jeder Seitenblick zu mir, jedes Lachen ist davon erfüllt, so wie tropischer Wald von den süßen Gerüchen seiner unzähligen Blüten. Ich genieße es, schlürfe es bedächtig, wie einen kostbaren, ausgereiften Wein, und ignoriere das zunehmende Trommeln des Tausendfüßlers. Diese Art des Erlebens aus zweiter Hand ist nur ein schwacher Abglanz dessen, was ich an Intensität spüre, wenn ich Sex mit einem meiner Opfer habe oder wenn ich ein Leben auslösche. Aber es ist von einer Frische, einer Unschuld, die für mich so ungewohnt und selten ist, wie Neuschnee für einen Südseeinsulaner. Ich fühle mich so gut wie schon lange nicht mehr.
Sogar auf Thierry bleibt das nicht ohne Wirkung. Auch er taut ein wenig auf, beteiligt sich am Gespräch, und lächelt mich immer öfter an. Ich sorge dafür, dass er mir ab und zu gut in den locker geknöpften Ausschnitt schauen kann, ich trage nichts unter der Bluse. Dann kommt der Fisch. Er ist butterzart und schmeckt himmlisch. Selbst der Tausendfüßler scheint davon zu naschen und beruhigt sich etwas.
Nach dem Essen schlendern wir noch etwas durch die Ortschaft. Trotz der Siestazeit haben einige Läden geöffnet. Natalie setzt jede Sonnenbrille auf, die auf einem der Displays vor den Schaufenstern hängt und will zu jeder einzelnen davon meinen Kommentar hören. Ihr Vater kauft ihr eine kecke Mütze mit einem unübersetzbaren spanischen Spruch darauf und sie springt und tänzelt damit vergnügt vor uns her. Es fühlt sich fast ein wenig an, wie der sorgenlose Familienurlaub, der immer im Werbefernsehen gezeigt wird, und den ich nie erlebt habe.
Kapitel 24
Donnerstag, 04.09.08, 17:15 Uhr
Später frischt der ablandige Wind ein wenig auf und wir segeln mit guter Fahrt etwas weiter hinaus. Die »Clementine« rollt sanft in der kaum fühlbaren Mittelmeerdünung. Das Ruder festgemacht, sonnt Natalie sich auf einem Polster ganz vorn unter dem Klüversegel, und Thierry bringt mir einen zweiten, ganz ausgezeichneten Cappuccino aus der kleinen Kombüse unten. Ich lächle ihn an und wir schlürfen schweigend an unseren Tassen. Die wortlose Stille zwischen uns fühlt sich jetzt anders an. Einfacher. Wie frisch gereinigt.
»Was hältst du davon, wenn
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