Kim Novak badete nie im See von Genezareth
glaube, er gab irgendwie seinem Rücken die Schuld. Bekam dann stattdessen einen Job in einer der vielen Schuhfabriken des Ortes, hier stellte man Winterstiefel für die Armee her, und auf diese Art und Weise trug auch er noch sein Scherflein dazu bei. Ein paar Jahre nach Kriegsende zog die Familie dann in die Wohnung in der Idrottsgatan.
Was mich betrifft, so wurde ich ungefähr acht Jahre und acht Tage nach meinem Bruder geboren, und ich bin in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass es einen bedeutend größeren Altersabstand zwischen meinem Bruder und mir gab als zwischen ihm und unseren Eltern. Inzwischen, Anfang der Sechziger, wurde mir langsam klar, dass das ein Irrtum sein musste, vielleicht half mir auch die Krebserkrankung meiner Mutter dabei, mir bildhaft klar zu machen, wie es sich wirklich verhielt.
Denn sie waren schon ziemlich alt, meine Mutter und mein Vater. In dem Sommer, in dem meine Mutter sterben sollte, waren sie beide siebenundfünfzig. Zusammen einhundertvierzehn, eine fast Schwindel erregende Zahl. Henry wurde im Juni zweiundzwanzig. Oder war es dreiundzwanzig? Ich selbst wurde vierzehn. So war die Lage, und mein Vater arbeitete inzwischen im Gefängnis, seit man vor eineinhalb Jahren dessen Tore für die gefährlichsten Verbrecher des Landes geöffnet hatte.
Oder besser gesagt, sie hinter ihnen geschlossen hatte.
Er war ein Schließer; ein Wort, das niemand im Ort kannte, bevor der große graue Kasten draußen auf dem Freigelände errichtet worden war.
Wächter, nannte er es selbst. Alle anderen sagten Schließer. Schließer im großen grauen Kasten.
Vorher war er Ledernäher in verschiedenen Fabriken gewesen. Ledernäher war ein Wort, das zu dem Zeitpunkt verschwand, als die letzte Fabrik geschlossen wurde und an ihrer Statt die Schließer kamen. So ging es nun einmal in der Welt zu, das hatte ich inzwischen gelernt. Einige Dinge verschwinden, und andere tauchen stattdessen auf. Ereignisse und alle möglichen Erscheinungen. Und Menschen.
Allein im Kopf ist alles zu finden. Obwohl es manchmal auch den Anschein haben mag, als sei dort etwas verschwunden.
Eine Fabrik, die bis zu dem Jahr noch nicht dicht gemacht hatte, war Sylt & Saft, dort arbeitete meine Mutter. Jedenfalls bis sie krank wurde. Es bringt so einige Vorteile mit sich, wenn man einen Vater in der Schuhfabrik und eine Mutter in der Saftherstellung hat. Man hatte immer flotte Schuhe, und meistens gab es ein riesiges Lager Apfelsaft im Vorratskeller.
Aber in dem besagten Sommer waren diese Zeiten fast vorbei. Einen Vater zu haben, der Schließer war, hatte eigentlich keinerlei Vorteile.
***
Was meinen Bruder Henry betrifft, so war geplant, dass er studieren und sich dadurch eine Gesellschaftsschicht oder zwei nach oben arbeiten sollte, aber es lief nicht so wie geplant. Er begann zwar in der Oberschule der Provinzhauptstadt. Die hatte einen ehrwürdigen Ruf, nahm nur Jungen auf und lag in einem tausendjährigen Schloss mit einem Burggraben drum herum. So weit lief alles glatt. Er paukte und nahm jeden Tag den Zug hin und zurück.
Aber nach gut zwei Schulhalbjahren haute Henry ab. Es war im Herbst 1957, und es dauerte mehr als ein Jahr, bis er wieder daheim an der Tür in der Idrottsgatan anklopfte, mit einem Seesack und einem Sack Bananen auf dem Rücken. Er war um die ganze Welt gefahren, erklärte er, aber in erster Linie war er in Hamburg und Rotterdam gewesen, und auf den Arm hatte er sich eine Rose tätowieren lassen. Allen war danach klar, dass er nicht viel Lust hatte, sich eine oder mehrere Stufen in der Gesellschaft nach oben zu arbeiten, jedenfalls nicht in der Art und Weise, wie es von ihm erwartet worden war. Meine Mutter weinte, als Henry zurückkam, ob jedoch aus Freude oder aus Kummer über die Tätowierung, die sie nicht mochte, das weiß ich nicht.
Nachdem er sich ein paar Monate ausgeruht hatte, zog Henry erneut los. Befuhr die sieben Meere bis 1960. Dann kam er wieder nach Hause - am gleichen Tag, an dem Dan Waern in Rom über eintausendfünfhundert Meter die Bronzemedaille verfehlt hatte - und sagte, er hätte genug von der Seefahrt. So fing er als Freelance, als freier Journalist, bei der Regionalzeitung Kurren an und verschaffte sich eine feste Freundin. Eine gewisse Emmy Kaskel, die bei Blidbergs Herrenausstatter arbeitete und den schönsten Busen der Stadt hatte.
Vermutlich der ganzen Welt.
Ungefähr zur gleichen Zeit besorgte er sich in der Provinzhauptstadt, die ungefähr zwanzig
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