Kim Schneyder
gegeben: Wenn man in extreme Situationen gerät, muss man manchmal auch extreme Mittel anwenden. Und wenn es ganz dicke kommt, muss man auch bereit sein, Regeln zu brechen und die eigenen Grenzen zu überschreiten.
Mal sehen. Das hier ist definitiv eine extreme Situation.
Die demzufolge eine extreme Maßnahme erfordert.
Also gut, gehen wir’s an.
Um Menschen zu manipulieren, gibt es unzählige Möglichkeiten. In einschlägigen Fachbüchern findet man eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Begriffen für solche Taktiken, die allesamt irre eindrucksvoll klingen, wie zum Beispiel: Durchsetzungsstrategie, Autoritätstaktik, Emotionale Appelle, Garantietaktik, Tabuisierungstaktik, Blockadestrategie, und noch viele, viele mehr.
Nur wenn man es mit einem Dellbert zu tun hat, hilft das alles herzlich wenig, das habe ich mittlerweile begriffen. Also habe ich kurzerhand eine völlig neue Taktik erfunden, etwas wirklich Revolutionäres, und sollte ich eines Tages ein Buch über Kommunikationstechniken schreiben, werde ich mindestens ein Kapitel darauf verwenden. Und den passenden Namen habe ich auch schon dafür. Ich nenne sie Die Taktik der völligen Kapitulation .
Ich weiß, beim ersten Hinhören klingt das nicht wirklich umwerfend, denn was soll schon besonders daran sein, wenn man einfach nachgibt? Aber das Entscheidende bei dem Thema ist doch die Frage, was man eigentlich erreichen will. Mit anderen Worten: Welches Ziel verfolgt man im Moment?
In meinem Fall war das vordergründige Ziel, mich gegen Dellbert durchzusetzen, ihm meinen Willen aufzuzwingen. Und mal ganz ehrlich, das war ziemlich in die Hose gegangen.
Doch dann begann ich mich zu fragen, was ich damit überhaupt erreicht hätte. Mal angenommen, ich hätte es geschafft, mit Dellbert zurechtzukommen, ohne nachzugeben, was wäre denn die Folge gewesen? Ich wäre mit ziemlicher Sicherheit der einzige Mensch auf Gottes Erdboden – seine Mutter eingeschlossen – gewesen, dem das gelungen wäre, und mit welchem Ergebnis? Ich wäre immer wieder darum gebeten worden, auf die kleine Knackwurst aufzupassen, ist doch klar. Und möchte ich das? Ganz bestimmt nicht!
Daher galt es, ein neues Ziel zu definieren, und vor allem, mein Ziel zu definieren: Nie mehr auf Dellbert aufpassen zu müssen, nie mehr von Dellberts Mutter zu hören, im Idealfall Dellberts Mutter so zu entsetzen, dass sie meine Handynummer sofort aus ihrem Nummernspeicher löscht – das verstehe ich unter einem erstrebenswerten Ziel.
Und mittlerweile weiß ich auch, wie ich das alles erreichen kann, und es ist gar nicht mal schwer.
Als wir eine Viertelstunde später wieder auf der Parkbank sitzen, würde die Szene glatt als idyllisch durchgehen – wäre da nicht Dellberts ohrenbetäubendes Schmatzen, als er seine Doppelportion Pommes mit Mayo in sich hineinstopft. Sicherheitshalber habe ich mir auch eine Portion genommen. Kinder haben es ja bekanntlich nicht so mit der Verteilungsgerechtigkeit, außerdem erschien es mir wenig verlockend, in dieselbe Tüte wie Dellbert zu fassen, zumal der wahre Schätze in seiner Nase vermuten muss, so, wie er mit seinen Fingern zwischendurch darin herumstöbert.
Und es ist kaum zu glauben: Wir kommen jetzt richtig gut miteinander aus!
»Siehst du, ich hab dir gesagt, du hältst das nicht durch«, mault Dellbert zwischendurch, bevor er sich die nächsten Fritten zwischen seine Zahnlücken stopft.
»Tja, weißt du, Dellbert«, philosophiere ich gelassen vor mich hin, »ein reifer Mensch muss manchmal auch bereit sein, von seinem Standpunkt abzugehen, wenn das einem guten Einvernehmen zuträglich ist. Übrigens, wie wär’s – die haben hier auch leckere Bratwürste!«
Meine Großzügigkeit macht ihn ganz fassungslos. »Meiner Mami darfst du das aber nicht sagen«, meint er, und in seinem Blick liegt unverhohlene Gier.
»Aber logo, das bleibt unser Geheimnis. Gehst du selber?«
Ich schiebe ihm einen Geldschein rüber, dann zischt er ab.
Und ich nutze die kleine Pause, um seine Mutter anzurufen.
»Wie läuft’s denn so bei euch?«, will sie gleich wissen. Sie klingt ein bisschen außer Atem, und automatisch frage ich mich, wobei ich sie gerade gestört habe.
»Phantastisch, kann ich dir nur sagen. Du hattest übrigens recht, er ist wirklich so ein Schatz«, flöte ich ins Telefon.
Sie macht eine überraschte Pause. Anscheinend hat sie das noch nicht oft gehört.
»Nur das mit dem Essen funktioniert nicht so ganz …«, schiebe ich beiläufig
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