Kind 44
an. Er hatte kaum noch Kraft, seine Bewegungen wurden schwerfällig und er war in Gedanken gar nicht mehr bei seinem Fall. War das Ganze etwa nur ein selbstsüchtiges und sinnloses Unterfangen? Er war noch nicht weit gegangen, als er hinter sich wieder Schritte im Schnee hörte.
Raisa war zurückgekommen. »Bis du sicher, dass der Mann schon andere ermordet hat?«
»Ja. Und wenn ich noch eine Leiche finde, dann müssen sie die Beweisaufnahme wieder eröffnen. Die Indizien gegen Warlam Babinitsch betreffen ausschließlich diesen Fall. Wenn ich noch eine Leiche finde, müssen sie ihn freilassen.«
»Du hast mir gesagt, dass dieser Warlam gestört ist.
Das hört sich an, als könnte man ihm praktisch jedes Verbrechen in die Schuhe schieben. Und wenn sie ihm nun einfach zwei Morde anlasten?«
»Da hast du recht, das Risiko besteht. Aber noch ein Toter ist die einzige Chance, dass die Ermittlungen überhaupt wieder aufgenommen werden.«
»Wenn wir also eine zweite Leiche finden, dann hast du deine Ermittlung? Und wenn wir keine finden, versprichst du mir dann, dass du die Finger von der Sache lässt?«
»Ja.«
»Na schön. Du gehst vor.«
Zögerlich und unsicher tapsten sie weiter in den Wald hinein.
Nachdem sie fast eine halbe Stunde nebeneinander hermarschiert waren, streckte Raisa plötzlich ihre Hand aus. Zwei unterschiedliche Fußspuren kreuzten nebeneinander verlaufend ihren Weg, die eines Erwachsenen und die eines Kindes. Ungewöhnliche Anzeichen wiesen sie nicht auf. Das Kind war nicht etwa mitgeschleift worden. Die Fußstapfen des Erwachsenen waren ausgreifend und tief. Ein großer, schwerer Mann hatte sie hinterlassen. Die des Kindes hatten sich kaum eingedrückt. Das Kind war offenbar klein und noch jung gewesen.
Raisa schaute Leo an. »Die könnten noch kilometerlang so weitergehen, bis zu irgendeinem Dorf auf dem Land.«
»Vielleicht.«
Raisa verstand. Leo würde diesen Spuren bis zum Ende nachgehen.
Sie waren den Spuren nun schon eine Weile gefolgt, ohne dass ihnen irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen wäre. Leo beschlich der Gedanke, dass Raisa vielleicht recht hatte. Vielleicht gab es für die Spuren hier eine völlig harmlose Erklärung. Dann blieb er abrupt stehen. Ein Stück vor ihnen war der Schnee plattgedrückt, so als hätte sich jemand dort hingelegt. Leo rannte weiter. Jetzt liefen die Fußspuren durcheinander, so als hätte es einen Kampf gegeben. Der Erwachsene hatte sich von der Stelle entfernt, während das Kind sich in entgegengesetzter Richtung weiterbewegt hatte, seine Spuren waren jetzt unregelmäßiger und unschärfer und lagen weiter auseinander. Es war gelaufen. Die Abdrücke im Schnee verrieten, dass es gestürzt war, man sah einen einzelnen Händeabdruck.
Aber es war wieder aufgestanden, weitergelaufen und dann erneut hingefallen. Auf dem Boden konnte man Spuren eines Kampfes erkennen, aber es war unmöglich zu sagen, gegen wen oder was das Kind sich gewehrt hatte, denn sonst waren keine Spuren zu entdecken. Was auch immer es gewesen sein mochte, dem Kind war es gelungen, sich noch ein weiteres Mal aufzurappeln und weiterzulaufen. Seine Verzweiflung konnte man förmlich im Schnee ablesen. Von dem Erwachsenen dagegen waren immer noch keine Spuren zu sehen. Erst mehrere Meter weiter vorn tauchten sie wieder auf. Tiefe Fußstapfen kamen zwischen den Bäumen hervor. Aber seltsam, die Spuren des Erwachsenen verliefen im Zickzack, mal hierhin, mal dorthin, und folgten denen des Kindes nur ganz ungefähr. Völlig unverständlich. Warum hatte der Mann sich denn erst von dem Kind entfernt, um es sich dann doch anders zu überlegen und wirr hinter ihm herzutaumeln? Nach den Winkeln der Fußspuren zu urteilen waren die beiden irgendwo hinter dem nächsten Baum wieder zusammengetroffen.
Raisa blieb stehen und starrte auf die Stelle, wo die Spuren zusammentreffen mussten. Leo legte ihr die Hand auf die Schulter. »Bleib hier stehen.«
Er ging allein weiter und trat um den Baum herum. Zuerst sah er den blutigen Schnee. Dann die nackten Beine und den verstümmelten Leib. Es war ein halbwüchsiger Junge, höchstens dreizehn oder vierzehn Jahre alt. Er war klein und schmächtig. Genau wie das Mädchen lag auch er auf dem Rücken und starrte gen Himmel. Er hatte etwas im Mund. Aus dem Augenwinkel bemerkte Leo eine Bewegung. Als er sich umdrehte, stand Raisa hinter ihm und starrte die Leiche des Jungen an. »Bist du in Ordnung?«
Langsam hob Raisa die Hand vor den Mund. Sie nickte
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