Kind 44
waren, soweit Leo sehen konnte, noch nicht durchsucht worden, denn der Schnee lag unberührt da. Er hatte eine Stunde gebraucht, um den zweiten Bereich zu durchsuchen, und am Ende waren seine Finger taub vor Kälte. Ein Vorteil des Schnees war allerdings, dass er relativ gut vorankam, weil er mit den Augen große Flächen nach Fußspuren absuchen und mit seinen eigenen Fußspuren die Bereiche markieren konnte, die er bereits durchsucht hatte.
Kurz bevor er mit dem dritten Abschnitt fertig war, hielt Leo inne. Er hatte Schritte gehört, ein Knirschen im Schnee. Er schaltete die Taschenlampe aus, verbarg sich hinter einem Baum und kauerte sich hin. Aber er konnte sich verstecken, wie er wollte, offenbar folgte jemand seinen Fußspuren. Sollte er weglaufen? Das war eigentlich seine einzige Chance.
»Leo?«
Er richtete sich auf und schaltete die Taschenlampe an.
Es war Raisa.
Um sie nicht zu blenden, senkte er den Lichtstrahl. »Ist man dir gefolgt?«
»Nein.«
»Was machst du hier?«
»Dasselbe wollte ich dich auch gerade fragen.«
»Das habe ich dir doch erklärt. Ein junges Mädchen ist ermordet worden. Sie haben einen Verdächtigen, aber ich glaube nicht ...«
Raisa unterbrach ihn, ungehalten und schroff.
»Du glaubst also nicht, dass er schuldig ist?«
»Nein.«
»Und seit wann schert dich so etwas?«
»Raisa, ich versuche nur ...«
»Leo, hör auf. Ich glaube nämlich nicht, dass ich es ertrage, wenn du mir jetzt auftischst, dass dein Gerechtigkeitssinn dich dazu treibt. Das hier nimmt ein böses Ende, und wenn es für dich böse endet, dann bin ich auch dran.«
»Ich soll also nichts unternehmen?«
Raisa wurde wütend. »Soll ich etwa auch noch Ehrfurcht vor deinen privaten Ermittlungen haben? In diesem Land gibt es überall Unschuldige, die ohne Grund angeklagt, eingesperrt und umgebracht werden. Und ich kann nichts dagegen machen. Ich kann höchstens versuchen zu vermeiden, dass mir das Gleiche blüht.«
»Glaubst du etwa, wenn wir uns nur schön brav ducken und nichts Falsches machen, dann passiert uns nichts? Du hattest auch vorher schon nichts Unrechtes getan, und trotzdem wollten sie dich als Verräterin an die Wand stellen. Stillhalten ist noch lange keine Garantie, dass sie einen nicht trotzdem verhaften. Diese Lektion habe ich mittlerweile gelernt.«
»Du benimmst dich wie ein Kind, das gerade etwas Neues gelernt hat. Dabei weiß jeder, dass man sich nie sicher sein kann. Die Frage ist nur, welches Risiko man eingeht. Und dieses Risiko hier ist fahrlässig. Glaubst du vielleicht, wenn du einen fängst, der es verdient, dass sich dann all die unschuldigen Männer und Frauen, die du verhaftet hast, einfach in Luft auflösen?
Hier geht es doch gar nicht um irgendein Mädchen, hier geht es um dich.«
»Du hasst mich, egal, ob ich linientreu bin oder nicht.
Du hasst mich, owohl ich mich bemühe, das Richtige zu tun.« Leo schaltete die Taschenlampe aus. Er wollte nicht, dass sie sah, wie wütend er war. Natürlich hatte sie recht. Alles, was sie sagte, stimmte. Ihr Schicksal war mit seinem verknüpft. Er hatte kein Recht, ohne ihr Einverständnis einfach mit irgendwelchen Nachforschungen anzufangen. Und schon gar nicht hatte er das Recht, den Moralprediger zu spielen.
»Raisa, ich glaube nicht, dass sie uns jemals in Ruhe lassen werden. Ich gehe davon aus, dass sie nur ein paar Monate verstreichen lassen, vielleicht ein Jahr von meiner Ankunft hier an gerechnet. Danach verhaften sie mich.«
»Woher willst du das wissen?«
»Sie lassen einen nie in Ruhe. Vielleicht müssen sie erst noch mehr Belastungsmaterial gegen mich sammeln. Vielleicht wollen sie auch nur, dass ich erst in der Versenkung verfaule, bevor sie mich endgültig erledigen. Aber viel Zeit habe ich nicht mehr. Und diese Zeit möchte ich dazu nutzen, denjenigen zu finden, der das hier verbrochen hat. Er muss gefasst werden. Mir ist klar, dass dir das nicht gerade hilft. Du hast aber noch eine Möglichkeit zu überleben. Kurz bevor man mich verhaftet, werden sie ihre Observierungsanstrengungen verdoppeln. Das ist der Moment, in dem du zu ihnen gehen und ihnen irgendetwas über mich auftischen solltest. Du musst so tun, als würdest du mich verraten.«
»Und was soll ich bis dahin machen? Einfach nur rumsitzen und warten? Für dich lügen? Dich decken?«
»Es tut mir leid.«
Raisa schüttelte den Kopf. Sie wandte sich um und machte sich auf den Rückweg zur Stadt. Als er allein war, schaltete Leo die Taschenlampe wieder
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