Kind 44
aus dem Fenster, ließ sich auf das vereiste Dach hinab und versuchte dabei möglichst keinen Lärm zu machen. Sie schloss das Fenster hinter sich und kraxelte hinunter bis zum Boden. Leo hatte ihr schwören müssen, dass sie einander jetzt so ebenbürtig waren wie noch nie, und schon hatte er sein Wort gebrochen. Wenn er glaubte, sie würde brav an seiner Seite stehen, die gehorsame, aufmerksame Ehefrau, während er ihr Leben aus ganz persönlichen Motiven in Gefahr brachte, dann hatte er sich geschnitten.
Am selben Tag
Teil der offiziellen Untersuchungen war gewesen, dass man den Bereich um den Fundort von Larissas Leiche im Radius von 500 Metern durchsucht hatte. Obwohl Leo keinerlei Erfahrungen mit Mordermittlungen hatte, kam ihm diese Fläche doch reichlich klein vor. Alles, was man entdeckt hatte, waren Larissas Kleider, die etwa 40 Schritt von der Leiche entfernt etwas weiter im Wald gefunden worden waren. Warum lagen Larissas Sachen, ihre Bluse, Rock, Mütze, Jacke und Handschuhe, alles ordentlich übereinander gefaltet, so weit von der Leiche weg? An den Kleidern hatte man keinerlei Blutspuren gefunden, keine Messereinstiche, Schnitte oder Löcher. Entweder war Larissa Petrowa entkleidet worden, oder sie hatte sich selbst ausgezogen. Vielleicht hatte sie versucht wegzulaufen, in Richtung Waldrand, und war dann kurz vor der Lichtung doch noch eingeholt worden. Wenn das stimmte, dann war sie nackt weggelaufen.
Der Mörder musste sie überredet haben, mit ihm zu kommen, vielleicht hatte er ihr auch Geld für Sex geboten. Sobald sie im Wald einigermaßen verborgen gewesen waren und sie ihre Kleider ausgezogen hatte, hatte er sie vermutlich angegriffen. Irgendwie erkannte Leo in dem Verbrechen überhaupt keine Logik. Er konnte sich keinen Reim machen auf all die eigenartigen Details, die Schnur, den entfernten Magen. Und doch gingen sie ihm nicht mehr aus dem Sinn.
Selbst wenn man einrechnete, dass man aus schierer Inkompetenz vielleicht etwas übersehen hatte, waren die Chancen, jetzt noch etwas Neues zu finden, gleich null. So kam es, dass Leo sich in der zweifelhaften Notwendigkeit wiederfand, noch eine Leiche zu finden. Im Winter kam bestimmt kein Mensch in die Wälder ringsum. Ein Toter konnte hier monatelang unentdeckt liegen, und wäre genauso gut erhalten wie Larissa. Einiges deutete daraufhin, dass Larissa nicht das erste Opfer des Täters gewesen war. Der Arzt hatte vermutet, dass der Mann sich auskannte. Solche Fähigkeiten und Selbstsicherheit erwarb man sich nur durch Praxis.
Die Methode legte ein bestimmtes Muster nahe, und ein Muster wiederum ließ einen Serientäter vermuten.
Und dann war da natürlich noch der Tod von Arkadi – eine Tatsache, die Leo momentan noch außen vor hielt.
Leo nutzte das Licht des Mondes, den Rest erledigte seine Taschenlampe. Sein Leben hing davon ab, dass er unentdeckt blieb. Der Drohung des Generals, ihn umzubringen, glaubte er aufs Wort. Einen ersten Rückschlag hatte sein Bemühen um Geheimhaltung allerdings erlitten, als Alexander, der Mann aus dem Bahnhof, ihn in Richtung Wald hatte marschieren sehen und seinen Namen gerufen hatte. Leo war keine glaubwürdige Lüge eingefallen, also hatte er zugeben müssen, dass er nach Beweisen im Mordfall an dem kleinen Mädchen suchte. Immerhin hatte er Alexander gebeten, niemandem ein Sterbenswörtchen zu erzählen, weil dies die Ermittlungen beeinträchtigen könne. Alexander hatte es auch versprochen und ihm viel Glück gewünscht, nicht ohne anzumerken, er selbst habe ja schon immer vermutet, dass der Mörder ein Zugreisender gewesen sei. Warum hätte die Leiche sonst so nah beim Bahnhof liegen sollen? Ein Einheimischer hätte im Wald doch viel abgelegenere Ecken gekannt. Leo hatte ihm zugestimmt und sich insgeheim vorgenommen, dem Mann auf den Zahn zu fühlen. Er machte zwar einen netten Eindruck, aber ein unschuldiger Anstrich besagte gar nichts. Dann fiel ihm ein, dass echte Unschuld einem ja auch nicht viel weiterhalf.
Mit Hilfe einer Karte, die er auf der Wache hatte mitgehen lassen, hatte Leo die den Bahnhof umgebenden Wälder in vier Suchabschnitte eingeteilt. Im ersten Abschnitt, in dem die Leiche des Opfers entdeckt worden war, hatte er nichts gefunden. Hunderte von Stiefeln hatten einen Großteil des Bodens zertrampelt, und nicht einmal der vermaledeite Schnee war noch da.
Man hatte ihn vermutlich abgetragen, um auch wirklich noch die letzte Spur dieses Verbrechens zu tilgen. Die anderen drei Abschnitte
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