Kind 44
zu dürfen, waren die Ermittlungen praktisch schon abgeschlossen gewesen.
Alles war bereit gewesen, um vor Gericht zu gehen.
Notgedrungen hatte Leo vorgebracht, der Gefangene habe möglicherweise noch mehr Mädchen umgebracht. Bevor ihm der Prozess gemacht wurde, sollten ihn die Miliz sowie die Sledowatjel also sicherheitshalber noch einmal verhören, um herauszufinden, ob es weitere Opfer gab. Zögernd hatte Nesterow zugestimmt. Eigentlich war das etwas, was er schon längst selbst hätte in die Wege leiten sollen. Immerhin hatte er darauf bestanden, beim Verhör zugegen zu sein, was Leo sehr zupass gekommen war. Je mehr Zeugen, desto besser. In Anwesenheit zweier Sledowatjel und zweier Milizbeamter hatte Babinitsch abgestritten, irgendetwas über andere Opfer zu wissen.
Anschließend hatten die Miliz und die Anwälte übereinstimmend erklärt, es sei unwahrscheinlich, dass Babinitsch noch jemanden umgebracht habe. Leo hatte Zweifel vorgetäuscht und vorgeschlagen, zur Sicherheit die Wälder ringsum zu durchsuchen, und zwar im Umkreis von einer halben Stunde Fußmarsch. Nesterow spürte, dass Leo etwas im Schilde führte, und seine Nervosität wuchs. Unter normalen Umständen, ohne Leos Verbindung zum MGB, hätte er sich geweigert.
Dass man die Ressourcen der Miliz dafür zweckentfremdete, aktiv nach einem Verbrechen zu suchen, war absurd. Aber sosehr Nesterow Leo auch misstraute, schien er doch gleichzeitig Angst zu haben, den Vorschlag abzulehnen. Das wäre vielleicht gefährlich gewesen, denn schließlich konnte der Befehl dazu ja auch aus Moskau kommen. Die Suche war für den heutigen Tag anberaumt, 36 Stunden, nachdem Leo und Raisa die Leiche des Jungen gefunden hatten.
In diesen vergangenen Stunden hatte die Erinnerung an den im Schnee liegenden Jungen Leo nicht losgelassen. Er hatte Albträume gehabt, in denen ein Junge im Schnee lag; nackt, ausgeweidet, hatte er gefragt, warum sie ihn im Stich gelassen hatten: Warum habt ihr nicht auf mich aufgepasst?
Der Junge in seinem Traum war Arkadi gewesen. Fjodors Sohn.
Raisa hatte Leo gestanden, dass es ihr schwergefallen war, sich auf die Schule zu konzentrieren. Sie hatte so tun müssen, als sei alles in Ordnung, und doch gleichzeitig gewusst, dass da im Wald ein toter Junge lag.
Sie hatte kaum an sich halten können, die Kinder nicht zu warnen und irgendwie die Stadt zu alarmieren, wo doch die Eltern überhaupt keine Ahnung von der Bedrohung hatten. Niemand hatte sein Kind vermisst gemeldet. In den Schulunterlagen fanden sich keine unentschuldigten Abwesenheiten. Wer war der Junge im Wald? Sie wollte, dass er einen Namen hatte, wollte seine Familie finden. Leo konnte sie nur bitten zu warten. Trotz ihres Unbehagens hatte sie sich durch seine Einschätzung vertrösten lassen, dass dies die einzige Möglichkeit war, einen unschuldigen jungen Menschen zu befreien und die Jagd auf den wirklich Schuldigen einzuleiten. Leos Argumentation war so grotesk, dass sie schon wieder vollkommen plausibel klang.
***
Nachdem er Arbeiter aus den Sägewerken für die Suchtrupps rekrutiert hatte, teilte Nesterow die Leute in sieben Mannschaften zu je zehn Personen auf. Leo war einer Gruppe zugeteilt, die die Wälder hinter dem Krankenhaus Nr. 379 durchsuchen sollte, der Seite, wo man die Leiche gefunden hatte, gegenüber. Ideal, fand Leo. Es war erheblich besser, wenn er den Jungen nicht selber fand. Außerdem bestand ja noch die Möglichkeit, dass sie auf noch mehr Leichen stießen. Leo war überzeugt, dass diese Opfer nicht die ersten waren.
Die zehn Leute aus Leos Mannschaft teilten sich in zwei Dreierund eine Vierergruppe auf. Leo war Nesterows Stellvertreter zugeteilt, einem Mann, der zweifellos angewiesen worden war, ihn im Auge zu behalten. Hinzu kam eine Frau aus der Sägemühle. Sie brauchten einen vollen Tag, um ihren Suchabschnitt zu durchkämmen, mehrere Quadratkilometer durch hohe Schneewehen, die sie mit Stöcken durchstoßen mussten, um sicherzugehen, dass sich darunter nichts befand. Eine Leiche hatten sie nicht entdeckt. Und als sie mit den anderen beiden Gruppen wieder am Krankenhaus zusammentrafen, hatten auch diese nichts gefunden. In den Wäldern war nichts. Leo konnte es kaum erwarten zu erfahren, was auf der anderen Seite der Stadt los war.
***
Nesterow stand am Waldrand neben der Hütte der Gleismeisterei, die man requiriert und in eine provisorische Einsatzzentrale verwandelt hatte. Leo kam näher und versuchte dabei, einen möglichst
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