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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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behandelten sie Raisa einigermaßen freundlich. Natürlich waren sie misstrauisch. Wer war sie? Warum war sie hier?
    War sie das, was sie zu sein vorgab? Aber das machte Raisa nichts aus, solcherlei Fragen stellten sich die Leute bei jedem. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft konnte Raisa sich vorstellen, dass man sich hier ein Leben aufbauen könnte.
    Sie dehnte ihren Aufenthalt in der Schule noch bis zum späten Nachmittag aus und bereitete ihre Stunden vor.
    Die Schule Nr. 151 war um einiges bequemer als ihre laute stinkende Kammer über dem Restaurant. Die schäbigen Bedingungen sollten eine Strafe sein, aber während sie Leo störten, waren sie gegen Raisa eine stumpfe Waffe. Noch vor allem anderen war sie ungewöhnlich anpassungsfähig. Sie hing weder an Häusern, noch an Städten oder Besitztümern. Solche Gefühle waren ihr fremd, man hatte sie ihr an dem Tag ausgetrieben, als sie als Kind die Zerstörung ihres Heims erlebt hatte. In einem der ersten Kriegsjahre, sie war siebzehn, hatte sie gerade im Wald nach etwas Essbarem gesucht, Pilze in der einen Tasche, Beeren in der anderen. Dann kamen die Granaten. Sie schlugen nicht in ihrer Nähe ein, sondern ein Stück weiter weg. Raisa stieg auf einen Baum und konnte noch durch den Stamm die Erschütterungen spüren. Wie ein Vogel hockte sie auf einem hohen Ast und beobachtete, wie sich ein paar Kilometer entfernt ihre Heimatstadt in Ziegelstaub und Rauch verwandelte und buchstäblich in die Luft flog. Der Horizont war hinter einem künstlichen Nebel verschwunden, der vom Boden hochgeschleudert wurde. Die Zerstörung war zu schnell, zu flächendeckend und zu vollständig passiert, als dass Raisa für ihre Familie noch ein Fünkchen Hoffnung gehabt hätte. Als das Bombardement vorbei war, stieg sie vom Baum und lief im Schockzustand durch den Wald.
    Aus ihrer rechten Jackentasche troff der Saft der zerquetschten Beeren. Sie hatte dicke Tränen vergossen, aber nicht aus Trauer, denn weder an diesem Tage noch später hatte sie je geweint. Es war wegen des Staubs – dem Einzigen, was von ihrem Zuhause und ihrer Familie noch übrig geblieben war. Dann war ihr klar geworden, dass die Granaten gar nicht von der deutschen Seite gekommen, sondern direkt aus den russischen Linien über ihren Kopf gepfiffen waren. Später, als Flüchtling, hatte man ihr bestätigt, dass die Armee Befehl gehabt hatte, sämtliche Städte und Dörfer zu zerstören, die in deutsche Hände hätten fallen können.
    Die vollständige Auslöschung ihrer Kindheit war nichts anderes gewesen als eine vorbeugende Maßnahme.
    Mit so einem Begriff ließen sich alle Toten rechtfertigen. Besser, man brachte die eigenen Leute um, als dass ein deutscher Soldat möglicherweise einen Laib Brot fand. Es gab weder Skrupel noch Entschuldigungen, Fragen waren keine erlaubt. Und das, was ihre Eltern ihr über Liebe und Zuneigung beigebracht hatten, das, was Kinder lernen, wenn sie zwei Menschen hören und beobachten, die sich lieben, hatte sie tief in ihrem Inneren vergraben. Solche Gedanken passten nicht in diese Zeit. Ein Heim zu haben, sich irgendwo zu Hause zu fühlen – nur Kinder klammerten sich an solche Träume.
    Raisa trat vom Fenster zurück und versuchte, ruhig zu bleiben. Leo hatte sie angefleht, bei ihm zu bleiben, und ihr auch die Risiken ausgemalt, wenn sie gehen sollte. Sie hatte nur aus einem einzigen Grund zugestimmt: Es war immer noch ihre beste Perspektive, wenn auch nicht gerade eine berauschende. Und jetzt setzte er ihre zweite Chance aufs Spiel. Wenn sie in dieser neuen Stadt überleben wollten, dann mussten sie sich diskret verhalten, durften nichts Auffälliges tun, nichts sagen und niemanden provozieren. Mit ziemlicher Sicherheit wurden sie beobachtet. Mit ziemlicher Sicherheit war Basarow ein Informant. Mit ziemlicher Sicherheit hatte Wassili Agenten in der Stadt, die sie beschatteten und nur auf einen Grund warteten, noch einmal nachzulegen und ihr Strafmaß von Exil auf Internierung oder gar Exekution auszuweiten.
    Raisa löschte das Licht. Im Dunklen stand sie da und sah aus dem Fenster. Draußen konnte sie niemanden entdecken. Wenn sie von Agenten beschattet wurden, dann waren die sehr wahrscheinlich da unten. Vielleicht hatte man auch deshalb das Fenster gesichert.
    Sie musste dafür sorgen, dass Leo die Nägel zurückbrachte und sie wieder einschlug. Vielleicht spionierte Basarow ihnen hinterher, wenn sie auf der Arbeit waren. Raisa zog sich Handschuhe und Mantel an.
    Dann stieg sie

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