Kind 44
kaum merklich.
Leo kniete sich neben dem Jungen hin. Um sein Fußgelenk war eine Schnur gebunden. Wo die Schlinge gescheuert und ins Fleisch geschnitten hatte, war die Haut rot. Den Mund hatte man ihm mit Erde vollgestopft, beinahe sah er so aus, als würde er schreien.
Anders als Larissas Körper war seiner nicht mit ei ner Schneeschicht bedeckt. Er war also nach ihr getötet worden, vielleicht erst in den letzten Wochen. Leo beugte sich vor, streckte die Hand aus und klaubte etwas von der dunklen Erde aus seinem Mund. Allerdings fühlte es sich überhaupt nicht wie Erde an. Mehr wie große, unregelmäßige Brocken. Leo zerrieb sie zwischen den Fingern. Das war gar keine Erde. Es war Baumrinde.
22. März
Um die 36 Stunden, nachdem Raisa und er die Leiche entdeckt hatten, hatte Leo ihren Fund immer noch nicht gemeldet. Raisa hatte recht. Statt dass sie die Ermittlungen neu aufnahmen, konnten sie den zweiten Mord doch einfach ebenfalls Warlam Babinitsch in die Schuhe schieben. Dem Jungen war jeglicher Selbsterhaltungstrieb fremd, und er ließ sich leicht beeinflussen. Man brauchte ihm nur etwas einzuflüstern, und er würde es wahrscheinlich für bare Münze nehmen. Warlam bot eine schnelle und einfache Lösung für zwei entsetzliche Morde. Warum sollte man nach einem zweiten Schuldigen suchen, wenn man schon einen in Verwahrung hatte? Unwahrscheinlich, dass Warlam ein Alibi hatte. Die Wärter im Internat würden sich weder daran erinnern, wo er wann gesteckt hatte, noch bereit sein, für ihn zu bürgen. Die Anklage würde sich fast unausweichlich von einem Mord auf zwei ausweiten.
Und Leo konnte sich nicht einfach hinstellen und behaupten, er habe da die Leiche eines Jungen gefunden.
Erst musste er beweisen, dass Babinitsch von dieser Geschichte nichts wusste. Es gab nur eine Möglichkeit, ihn zu retten, indem man nämlich die Ermittlungen gegen den Hauptverdächtigen der Miliz zu Fall brachte – ihren einzigen Verdächtigen. Allerdings war dies genau das, wovor Nesterow Leo gewarnt hatte. Es würde bedeuten, dass man ein Verfahren eröffnete, ohne einen Verdächtigen zu haben. Ein Verfahren gegen unbekannt. Verschärft wurde das Problem durch die Tatsache, dass Babinitsch bereits gestanden hatte.
Fast zwangsläufig würden sich die örtlichen MGB-Kader einschalten, wenn sie hörten, dass ein Geständnis durch die Miliz selbst diskreditiert worden war. Geständnisse waren die Ecksteine des Rechtssystems, und ihre Unantastbarkeit musste um jeden Preis verteidigt werden. Wenn jemand anderes von diesem zweiten Mord erfuhr, bevor Leo Babinitschs Unkenntnis nachweisen konnte, dann würde man vielleicht auf die Idee kommen, dass es viel leichter, unkomplizierter und sicherer war, dessen Geständnis auszuweiten und dem Verdächtigen die notwendigen Einzelheiten einzutrichtern. Ein dreizehnjähriger Junge, auf der anderen Seite der Gleise im Wald erstochen, ein paar Wochen her.
Das war doch eine hübsch effiziente Lösung, die niemandem wehtat, nicht einmal Babinitsch, denn der würde vermutlich sowieso nicht mitkriegen, was da vor sich ging. Es gab nur eine Möglichkeit, dass die Nachricht über die zweite Leiche nicht durchsickerte: Leo musste schweigen. Als er zum Bahnhof zurückgekehrt war, hatte er daher nicht die Wache alarmiert oder seine Vorgesetzten angerufen. Er hatte weder den Mord gemeldet noch den Tatort gesichert. Er hatte überhaupt nichts gemacht. Zu Raisas Erstaunen hatte er sie gebeten, nichts zu verraten, und es damit erklärt, dass er erst am nächsten Morgen Zugang zu Babinitsch haben werde und deshalb die Leiche über Nacht im Wald bleiben müsse. Wenn der Junge eine Chance auf Gerechtigkeit haben sollte, sehe er keine andere Möglichkeit.
Babinitsch war nicht mehr unter der Obhut der Miliz.
Er war an die Anwälte der Staatsanwaltschaft überstellt worden. Die Ankläger hatten ihm bereits das Geständnis für den Mord an Larissa Petrowa abgeschwatzt. Leo hatte das Dokument gelesen. Zwischen dem Geständnis, das ihm die Miliz abgenommen hatte, und dem der Sledowatjel gab es einige Unterschiede, aber das würde kaum eine Rolle spielen. Im Wesentlichen liefen beide auf dasselbe hinaus: Babinitsch war schuldig.
Außerdem war das Geständnis vor der Miliz ohnehin nicht rechtskräftig und würde somit vor Gericht nicht verwendet werden. Ihre Aufgabe hatte nur darin bestanden, den wahrscheinlichsten Verdächtigen herauszufinden. Zu dem Zeitpunkt, als Leo darum gebeten hatte, den Gefangenen sprechen
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