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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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angewachsen.
    Unzufrieden mit den mangelnden Fortschritten hatte der örtliche MGB vorgeschlagen, die Verhöre selbst zu übernehmen, was nichts anderes bedeutete als Folter.
    Zu Leos Bestürzung hatte Nesterow zugestimmt. Aber trotz blutbesudelter Fußböden hatte es keinen Durchbruch gegeben. Nesterow blieb wenig anderes übrig, als 150 Männer formell anklagen zu lassen, in der Hoffnung, dass das einen von ihnen zum Reden bringen würde. Es reichte offenbar nicht, dass man sie erniedrigt, beschämt und gefoltert hatte. Sie mussten begreifen, dass sie ihr Leben verlieren würden. Wenn man den Richter entsprechend instruierte, würden sie nicht nur die lumpigen fünf Jahre für Sodomie kriegen, sondern 25 Jahre wegen politischer Subversion. Ihre sexuelle Neigung würde als Verbrechen gegen das Gefüge des Staates selbst gewertet werden. Angesichts dieser Aussichten brachen drei der Männer zusammen und bezichtigten andere. Allerdings hatte sich jeder einen anderen ausgesucht. Nesterow konnte sich nicht eingestehen, dass seine Ermittlungsmethode wenig taugte, und verlegte sich darauf, dahinter eine Art perverser Verbrechersolidarität zu vermuten, einen Ehrenkodex von sexuellen Abweichlern.
    Entsetzt sprach Leo mit seinem Vorgesetzten. »Diese Männer sind unschuldig!«
    Nesterow sah ihn verdutzt an: »Diese Männer sind allesamt schuldig. Die Frage ist nur, wer auch eines Mordes schuldig ist.«
    ***
    Raisa sah zu, wie Leo die Hacken seiner Stiefel aneinanderschlug. Batzen schmutzigen Schnees lösten sich.
    Er starrte zu Boden, ohne ihre Anwesenheit im Raum zu bemerken. Sie konnte seine Enttäuschung kaum ertragen. Er hatte tatsächlich daran geglaubt, mit seinen Ermittlungen eine Chance zu haben. Hatte seine Hoffnungen an irgendeinen spinnerten Wiedergutmachungstraum geknüpft, einen letzten Akt der Gerechtigkeit. In jener Nacht hatte sie ihn wegen dieser Idee verlacht. Aber der Lauf der Dinge hatte ihn eigentlich noch viel grausamer verspottet. Mit seinem Streben nach Gerechtigkeit hatte er nur Terror entfesselt. Bei der Hetzjagd auf einen Mörder würden 150 Männer ihr Leben verlieren, und wenn nicht buchstäblich, dann zumindest auf allen anderen Ebenen. Sie würden ihre Familie und ihr Heim verlieren. Als sie ihren Mann jetzt so dasitzen sah, mit hängenden Schultern und verhärmten Zügen, da wurde ihr klar, dass er nie etwas tat, ohne daran zu glauben. Es war nichts Zynisches oder Berechnendes an ihm. Wenn das stimmte, dann musste er auch an ihre Ehe geglaubt haben. Er musste geglaubt haben, dass sie auf Liebe gegründet war. Und die Phantasieträume, die er sich zurechtgelegt hatte, über den Staat, über ihre Beziehung, waren eine nach der anderen geplatzt. Raisa beneidete ihn. Selbst jetzt, nach allem, was geschehen war, konnte er immer noch hoffen. Er wollte immer noch an etwas glauben. Sie trat vor und setzte sich neben ihn aufs Bett. Zögerlich nahm sie seine Hand. Er schaute sie überrascht an, sagte aber nichts, nahm einfach nur ihre Geste an. Gemeinsam sahen sie den Schnee auf den Dielen schmelzen.
30. März
    Das Waisenhaus Nr. 80 war ein fünfstöckiger Ziegelbau mit einem verblichenen Schriftzug an einer Seitenwand: HARTE ARBEIT, LANGES LEBEN. Auf dem Dach ragte eine lange Reihe Schornsteine auf. Irgendwann hatte das Waisenhaus einmal eine kleine Fabrik beherbergt. An den vergitterten Fenstern hingen verdreckte Lumpen, die jeden Blick nach drinnen verwehrten. Leo klopfte an die Tür. Keine Antwort. Er drückte auf die Klinke. Es war abgeschlossen. Er ging zu einem der Fenster und klopfte gegen die Scheibe. Die Lumpen wurden zurückgerissen. Für kaum eine Sekunde zeigte sich das Gesicht eines kleinen Mädchens, ein dreckstarrendes Gespenst, bevor die Vorhänge wieder zugezogen wurden. Nach langem Warten öffnete sich schließlich die Hauptpforte. Ein älterer Mann mit einem Bund Messingschlüssel starrte die beiden Beamten an.
    Als er ihre Uniformen bemerkte, wich der Ausdruck von Ärger auf seinem Gesicht dem der Beflissenheit. Er neigte leicht den Kopf. »Was kann ich für Sie tun?«
    »Wir sind wegen des ermordeten Jungen hier.«
    Die Eingangshalle des Waisenhauses war früher einmal die Fabriketage gewesen. Man hatte die Maschinen abgebaut und den Raum in einen Speisesaal verwandelt. Nicht etwa, indem man Tische und Stühle aufgestellt hatte, denn die gab es nicht, sondern einfach dadurch, dass überall auf dem Boden Kinder aneinandergequetscht im Schneidersitz saßen und zu essen versuchten.

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