Kind 44
sah, ließ sie es in den Falten ihres Kleides verschwinden.
»Wir dachten, es wären die Jungs. Die dürfen hier nämlich nicht rein.«
Etwa zwanzig Mädchen, vermutlich zwischen vierzehn und sechzehn Jahren alt, starrten Leo mit verhärteten Gesichtern an. Plötzlich musste Leo wieder daran denken, wie er Anatoli Brodsky zugesichert hatte, dass die beiden Töchter es in der Obhut eines Moskauer Waisenhauses gut haben würden. Es war ein leeres, ignorantes Versprechen gewesen, das verstand Leo jetzt.
Brodsky hatte recht gehabt. Die beiden Mädchen wären auf sich allein gestellt besser dran gewesen, wenn die eine auf die andere aufgepasst hätte. »Wo schlafen die Jungen?«
Die älteren Jungen, von denen einige im Büro des Direktors gewesen waren, hockten aneinandergekauert in der hintersten Ecke ihres Raumes und warteten auf sie. Leo ging zu ihnen, kniete sich hin und legte ein Fotoalbum vor sie auf den Boden. »Ich möchte, dass ihr euch diese Fotos anschaut und mir sagt, ob einer dieser Männer sich euch schon einmal genähert oder euch Geld für sexuelle Gefälligkeiten angeboten hat.«
Keiner der Jungen rührte sich oder zeigte irgendwelche Anzeichen, dass Leos Vermutung richtig war.
»Ihr habt nichts Falsches getan. Wir brauchen eure Hilfe.« Leo schlug das Album auf und blätterte langsam die Seiten mit den Fotografien um, bis er auf der letzten Seite angekommen war. Sein jugendliches Publikum hatte die Fotos angestarrt, aber keinerlei Reaktion gezeigt. Er blätterte es noch einmal durch. Immer noch keine Reaktion von den Jungen. Gerade wollte er das Album zuklappen, als einer aus der hinteren Reihe den Arm ausstreckte und eines der Fotos berührte.
»Hat dieser Mann sich an dich herangemacht?«
»Geld.«
»Er hat dir Geld angeboten?«
»Nein. Sie geben mir Geld, dann sage ich es Ihnen.«
Leo und Moisejew legten zusammen und boten dem Jungen drei Rubel an. Er blätterte rasch das Album durch, hielt bei einer Seite an und deutete auf eines der Fotos. »Der Mann sah aus wie der da.«
»Es war also nicht dieser Mann?«
»Nein, aber er sah so ähnlich aus.«
»Weißt du seinen Namen?«
»Nein.«
»Kannst du uns irgendetwas über ihn sagen?« »Geld.«
Moisejew schüttelte den Kopf, er würde nichts mehr herausrücken. »Wir könnten dich wegen Wucherei einsperren.«
Leo unterbrach ihn, holte sein letztes Geld hervor und gab es dem Jungen. »Mehr habe ich nicht.«
»Er arbeitet im Krankenhaus.«
Am selben Tag
Leo zog seine Waffe. Sie waren im obersten Stockwerk von Wohnblock Nr. 7. Die Wohnung Nr. 14 befand sich am anderen Ende des Flurs. Die Adresse hatte ihnen das Krankenhauspersonal mitgeteilt. Der Verdächtige war die letzte Woche krank gewesen. Wenn die MGB-Offiziere nicht so beschäftigt mit ihren Verhören gewesen wären, hätte ein solch langer Zeitraum höchstwahrscheinlich eine Vernehmung nach sich gezogen.
Wie sich herausstellte, fiel der Anfang der Krankheit mit der ersten Verhaftungswelle unter den Homosexuellen in der Stadt zusammen.
Leo klopfte. Keine Antwort. Er nannte laut seinen Namen und Dienstgrad. Immer noch keine Antwort.
Moisejew hob einen Fuß, bereit, gegen das Schloss zu treten. Da öffnete sich die Tür.
Als er die auf sich gerichteten Pistolen sah, hob Dr.
Tjapkin die Hände und trat einen Schritt zurück. Leo erkannte ihn kaum wieder. War das derselbe Mann, der ihm bei der Untersuchung der Leiche des Mädchens geholfen hatte? Der namhafte Arzt, den man aus Moskau versetzt hatte? Haare und Blick waren verworren.
Er hatte abgenommen, seine Kleidung war zerknittert.
Leo sah einen Mann vor sich, den die Angst schier umbrachte. Er kannte das von früher. Wie ihre Muskeln alle Form und Kraft verloren, wenn die Angst sie auffraß.
Mit dem Fuß schob er die Tür auf und warf einen prüfenden Blick in die Wohnung.
»Sind Sie allein?«
»Mein jüngster Sohn ist hier. Aber er schläft.«
»Wie alt ist er?«
»Vier Monate.«
Moisejew trat vor und schlug Tjapkin mit dem Pistolenknauf auf die Nase. Tjapkin fiel auf die Knie, durch seine hohlen Hände tropfte Blut. Als ranghöherer Beamter befahl Moisejew Leo: »Durchsuchen Sie ihn.«
Moisejew begann die Wohnung zu filzen. Leo beugte sich hinunter, half Tjapkin auf und brachte ihn in die Küche, wo er ihn auf einen Stuhl setzte.
»Wo ist Ihre Frau?«
»Einkaufen. Sie wird gleich zurück sein.«
»Im Krankenhaus hieß es, Sie seien krank.«
»Das stimmt auch, gewissermaßen. Ich habe von den Verhaftungen gehört.
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