Kind 44
Es war nur eine Frage der Zeit, bis Sie zu mir kommen würden.«
»Erzählen Sie mir, was passiert ist.«
»Ich war verrückt. Eine andere Erklärung habe ich nicht.
Ich wusste nicht, wie alt er war. Er war jung, vielleicht fünfzehn oder sechzehn. Ich wollte niemanden, der mit mir sprach oder anderen von mir erzählte. Ich wollte mich nicht weiter mit ihm treffen müssen. Oder ihn überhaupt wiedersehen. Ich dachte mir, einem Waisen würde sowieso keiner was glauben, sein Wort galt doch nichts. Ich konnte ihm ein bisschen Geld geben, und fertig. Ich wollte einen Unsichtbaren, verstehen Sie?«
Nach seiner oberflächlichen Durchsuchung kam Moisejew wieder ins Zimmer und steckte seine Waffe weg.
Er griff Tjapkins gebrochene Nase, drehte den zertrümmerten Knochen nach links und rechts, bis der andere vor Schmerzen aufjaulte. Im Nachbarzimmer wurde das Baby wach und fing an zu schreien.
»Du fickst diese Jungen, und dann bringst du sie um?«
Moisejew ließ Tjapkins Nase los. Der Arzt fiel zu Boden und krümmte sich zusammen. Es dauerte eine Weile, bis er endlich sprechen konnte.
»Ich habe ihn nicht angerührt. Habe kalte Füße bekommen. Ja, ich habe ihn gefragt und ihm auch Geld gegeben, aber dann konnte ich es doch nicht tun. Ich bin weggegangen.«
»Hoch mit dir! Abmarsch.«
»Wir müssen warten, bis meine Frau zurückkommt.
Wir können doch meinen Sohn nicht allein lassen.«
»Der Kleine wird das schon überleben. Hoch mit dir!«
»Lassen Sie mich wenigstens die Blutung stillen.«
Moisejew nickte. »Lass die Badezimmertür offen.«
Tjapkin verließ die Küche und taumelte ins Bad; auf der Tür, die er wie befohlen offen ließ, hinterließ er einen blutigen Handabdruck. Moisejew sah sich um. Leo konnte sehen, wie neidisch er war. Der Herr Doktor hatte ein gemütliches Heim. Tjapkin ließ Wasser ins Waschbecken laufen, drückte sich ein Handtuch gegen die Nase. Von ihnen abgewandt sagte er: »Es tut mir sehr leid, was ich getan habe. Aber ich habe nie jemanden umgebracht. Das müssen Sie mir glauben. Nicht, weil ich denke, dass mein Ruf noch zu retten ist. Ich weiß, dass ich ruiniert bin. Aber den Jungen hat ein anderer umgebracht. Und der muss gefasst werden.«
Moisejew wurde ungeduldig. »Wird’s bald.«
»Ich wünsche Ihnen viel Glück.«
Als Leo diese Worte hörte, rannte er ins Bad und riss Tjapkin herum. In Tjapkins Arm steckte eine Spritze.
Seine Beine gaben nach, und er sackte in sich zusammen. Leo fing ihn auf, legte ihn auf den Boden und zog die Spritze aus dem Arm. Er fühlte den Puls. Tjapkin war tot. Moisejew starrte auf die Leiche hinab. »Das erleichtert uns die Arbeit.«
Leo sah auf. Tjapkins Frau war zurückgekehrt. Sie stand in der Wohnungstür und hielt die Lebensmittel für die Familie im Arm.
1. April
Alexander schloss den Fahrkartenschalter. Soweit er es mitbekam, hatte Nesterow Wort gehalten. Das Geheimnis seiner sexuellen Eskapaden war gewahrt worden. Keiner seiner Kunden warf ihm komische Blicke zu. Keiner flüsterte hinter seinem Rücken. Seine Familie mied ihn nicht. Seine Mutter liebte ihn immer noch.
Sein Vater dankte ihm für seinen Fleiß. Alle beide waren sie immer noch stolz auf ihn. Der Preis für diesen Status quo waren die Namen von über 100 Männern gewesen. Männer, die man abgeholt hatte, während Alexander weiter seine Fahrkarten verkaufte, die Fragen der Reisenden beantwortete und sich mit dem täglichen Bahnhofseinerlei abgab. Sein Leben verlief wieder in ruhigen Bahnen, der Tagesablauf war fast wie früher. Er aß mit seinen Eltern zu Abend, brachte seinen Vater ins Krankenhaus, machte den Bahnhof sauber, las die Zeitung. Nur ins Kino ging er nicht mehr. Eigentlich ließ er sich überhaupt nicht mehr im Stadtzentrum blicken. Er hatte Angst davor, wem er begegnen würde: vielleicht einem Milizbeamten, der ihn wissend angrinste. Alexanders Welt war geschrumpft. Aber sie war ja früher auch schon einmal geschrumpft, als er seinen Athletentraum aufgegeben hatte. Er würde sich schon dran gewöhnen, genauso wie damals.
Tatsächlich fragte er sich aber jeden Morgen, ob die Männer ahnten, dass er sie verraten hatte. Vielleicht hatte man es ihnen gesagt. Allein die Anzahl der Verhafteten bedeutete wahrscheinlich, dass man in einer Zelle gleich mehrere zusammengepfercht hatte. Womit konnten sie schon die Zeit totschlagen, als darüber zu spekulieren, wer die Liste geschrieben hatte. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie nichts mehr zu verbergen
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