Kind 44
abends geschlossen, aber es gab keinen Zaun, und der Verordnung wurde nie Nachdruck verliehen.
Alexander wusste, welchen Weg er nehmen musste.
Einen von der Straße abgelegenen und weitgehend uneinsehbaren Pfad, der hinter Büschen und Bäumen lag.
Wie immer fühlte er, dass sein Herz bereits erwartungsvoll schneller schlug. Er drehte eine langsame Runde um den Park herum. Offenbar war er heute Abend allein. Nach der zweiten Runde überlegte er schon, ob er nach Hause gehen sollte.
Vor ihm war ein Mann. Alexander blieb stehen, und der andere wandte sich um. Ein nervöses Innehalten signalisierte, dass sie beide aus dem gleichen Grund hier waren. Alexander ging weiter, während der Mann blieb, wo er war, und wartete, bis Alexander aufgeschlossen hatte. Als sie nebeneinander standen, schauten sie sich prüfend um, ob sie auch wirklich allein waren, bevor sie einander ansahen. Der Mann war jünger als Alexander, vielleicht erst neunzehn oder zwanzig. Er machte einen unsicheren Eindruck, und Alexander tippte, dass er das hier zum ersten Mal machte. Er brach das Schweigen: »Ich kenne einen Platz, wo wir hingehen können.«
Der junge Mann sah sich noch einmal um und nickte dann schweigend. Alexander fuhr fort: »Geh mir nach.
Aber halt Abstand.«
Nacheinander setzten sie sich in Bewegung. Alexander ging voraus und verschaffte sich ein paar 100 Schritt Vorsprung. Er blickte sich um. Der andere folgte ihm noch.
Als sie am Bahnhof ankamen, vergewisserte sich Alexander, dass nicht etwa seine Eltern an einem der Wohnungsfenster standen. Unbeobachtet huschte er in die Bahnhofshalle, so als wolle er noch einen Zug erreichen. Ohne das Licht anzuschalten, schloss er den Fahrkartenschalter auf, ging hinein und ließ die Tür offen. Er schob den Stuhl beiseite. Viel Platz war nicht, aber es reichte. Er wartete, sah auf die Uhr und fragte sich, wo der andere so lange blieb. Schließlich hörte er, wie jemand den Bahnhof betrat. Die Tür des Fahrkartenschalters wurde aufgestoßen. Der Mann trat ein, und zum ersten Mal nahmen die beiden sich richtig in Augenschein. Alexander machte einen Schritt vor, um die Tür abzuschließen. Das Geräusch des Schlosses erregte ihn. Es bedeutete, dass sie sicher waren. Fast berührten sie sich schon, aber nur fast. Keiner war sich sicher, wer von beiden den ersten Schritt machen sollte.
Alexander mochte diesen Moment, und kostete ihn so lange aus, wie es nur ging, bis er sich endlich vorbeugte und ihn küsste.
Jemand hämmerte gegen die Tür. Alexanders erster Gedanke war, dass das nur sein Vater sein konnte. Aber das Hämmern kam gar nicht von der anderen Seite. Es war der Mann bei ihm, der gegen die Tür schlug und nach draußen rief. Hatte er es sich anders überlegt? Mit wem redete er? Alexander war verwirrt. Draußen vor dem Schalter waren Stimmen zu hören. Jetzt war der andere nicht mehr sanft und nervös. Eine Veränderung war in ihm vorgegangen. Er war wütend und angeekelt.
Er spuckte Alexander ins Gesicht. Die Spucke hing ihm vom Kinn, und Alexander wischte sie weg. Ohne nachzudenken, ohne zu verstehen, was hier eigentlich los war, versetzte er dem Mann einen Fausthieb und streckte ihn zu Boden.
Jemand rüttelte an der Türklinke. Von draußen rief eine Stimme: »Alexander, hier ist General Nesterow. Der Mann bei Ihnen ist ein Milizbeamter. Ich befehle Ihnen, die Tür aufzumachen. Entweder Sie gehorchen oder ich rufe Ihre Eltern und hole sie hier herunter, damit sie zusehen, wie ich Sie verhafte. Ihr Vater ist doch krank, oder? Es würde ihn umbringen, wenn er von Ihrem Verbrechen erführe.«
Er hatte recht. Es würde seinen Vater wirklich umbringen. Hektisch versuchte Alexander die Tür zu öffnen, aber das Schalterhäuschen war so eng, dass der Körper des zu Boden gegangenen Mannes sie blockierte. Er musste ihn erst zur Seite zerren, bevor er die Tür aufschließen und öffnen konnte. Sobald sie auf war, langten Hände hinein, ergriffen ihn und zogen ihn heraus.
Leo sah Alexander an, den ersten Menschen, dem er begegnet war, nachdem er aus dem Zug aus Moskau gestiegen war. Den Mann, der ihm eine Zigarette geholt und ihm geholfen hatte, als er den Wald abgesucht hatte. Es gab nichts, was Leo für ihn tun konnte.
Nesterow spähte in das Schalterhäuschen und stierte auf seinen Beamten hinab, der immer noch benommen am Boden lag und sich schämte, dass man ihn überwältigt hatte.
»Holt ihn da raus.«
Zwei Beamte gingen hinein und halfen dem jungen Mann nach draußen in
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