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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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dass diese Männer allesamt unschuldig waren.
    Sie hatten sich Namen für Namen durch Alexanders Liste gepflügt. Alexander hatte betont, die Tatsache, dass er sie erstellen könne, lasse nicht etwa Rückschlüsse auf seine Promiskuität zu, jedenfalls nicht in dem Maße, dass er mit über 100 Männern sexuelle Kontakte gepflegt habe. Viele Namen auf der Liste gehörten zu Männern, denen er noch nie begegnet sei.
    Seine Informationen stammten aus Unterhaltungen mit den etwa zehn Männern, mit denen er sexuell verkehrt hatte. Jeder dieser Männer hatte von Verhältnissen mit wieder anderen Männern erzählt, und wenn man alle zusammennahm, ergab sich das Bild einer sexuellen Konstellation, in der jeder der Männer seinen Platz in Bezug auf die anderen kannte. Leo hatte sich Alexanders Erklärung angehört, und eine verborgene Welt hatte sich vor ihm aufgetan, eine hermetisch versiegelte Subexistenz innerhalb der Gesellschaft. Von entscheidender Bedeutung war, dass die Siegel intakt blieben. Alexander hatte erzählt, wie die Männer auf der Liste sich zufällig in Allerweltssituationen begegnet waren, beim Anstehen nach Brot, beim Essen am selben Tisch der Firmenkantine. In solch einer alltäglichen Umgebung waren zwanglose Gespräche verboten, höchstens einen Seitenblick konnte man sich leisten, und auch der musste noch kaschiert werden. Das waren die Regeln. Niemand hatte sie per Dekret verordnet, niemandem musste man sie erklären. Sie hatten sich einfach aus purem Selbsterhaltungstrieb ergeben.
    Sobald die erste Welle der Verhaftungen angelaufen war, musste die Nachricht von einer Säuberungsaktion sich wie ein Lauffeuer unter ihresgleichen verbreitet haben. Die heimlichen Treffpunkte, die jetzt nicht mehr heimlich waren, wurden aufgegeben. Aber diese verzweifelte Gegenmaßnahme hatte nichts genutzt. Es gab ja die Liste. Die Siegel, die ihre Welt geschützt hatten, waren zerbrochen. Nesterow war gar nicht darauf angewiesen, jeden in einer sexuell eindeutigen Situation zu erwischen. Als sie ihre Namen schwarz auf weiß lasen und erkannten, dass man in ihre Reihen eingedrungen war, hatten sie einer nach dem anderen dem Druck dieses Verrats nachgegeben. Wie U-Boote, die lange unentdeckt unter Wasser gefahren waren, mussten sie nun feststellen, dass man die Position jedes Einzelnen durchgegeben hatte. Und als sie dann gezwungen wurden aufzutauchen, hatte man sie alle vor eine Wahl gestellt, die ihnen eigentlich keine Wahl ließ, aber wählen konnten sie trotzdem: Entweder konnten sie die Vorwürfe der Sodomie anfechten und sich auf ein öffentliches Verfahren, eine sichere Verurteilung und Haft einstellen. Oder sie konnten auf den Homosexuellen unter ihnen zeigen, der für dieses schreckliche Verbrechen verantwortlich war, den Mord an einem halbwüchsigen Jungen.
    Leo hatte den Eindruck, als scheine Nesterow zu glauben, dass all diese Männer an einer Art Krankheit litten.
    Während einige kaum befallen waren und sich nur mit Gefühlen für andere Männer plagten, so wie mancher normale Mensch unter ständigen Kopfschmerzen litt, waren andere ernsthaft erkrankt, und die Symptome drückten sich in ihrem Verlangen nach kleinen Jungen aus. Das war Homosexualität in ihrer schlimmsten Form. So ein Mann war der Mörder.
    Als Leo ihnen Fotos vom Tatort vorgelegt hatte, Fotos von einem Jungen mit aufgeschlitztem Bauch, hatten alle Verdächtigen genau auf die gleiche Weise reagiert.
    Sie waren schockiert gewesen, oder zumindest hatte es den Anschein gehabt. Wer konnte nur so etwas machen? Von ihnen war es jedenfalls keiner gewesen, und auch niemand, den sie kannten. Keiner von ihnen war an Jungen interessiert. Viele hatten selbst Kinder. In einem Punkt war jeder der Männer entschlossen: Von einem Mörder in ihren Reihen wussten sie nichts, und sie würden ihn auch nicht decken, falls sie von einem erfuhren. Nesterow hatte binnen einer Woche mit einem Hauptverdächtigen gerechnet. Aber nach sieben Tagen hatten sie nichts weiter vorzuweisen als eine noch längere Liste. Weitere Namen wurden genannt, manche nur aus Boshaftigkeit. Aus der Liste war eine grausame, wirksame Waffe geworden. Manche Milizbeamte fügten die Namen ihrer Feinde hinzu und behaupteten, die Betreffenden seien in Geständnissen genannt worden. Wenn ein Name erst einmal auf der Liste auftauchte, dann war es praktisch unmöglich, sich für unschuldig zu erklären. Auf diese Weise war die Zahl der in Gewahrsam befindlichen Männer von 100 auf annähernd 150

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