Kind 44
was er berichtete, würde durch den anderen Agenten gegengeprüft werden. Deshalb war es so wichtig, dass Raisa direkt nach Hause ging. Wenn sie irgendwo anders hinging, ins falsche Restaurant oder den falschen Buchladen, in eine falsche Wohnung, wo die falschen Leute lebten, dann brachte sie sich in Gefahr. Indizien legten sich, wenn sie gebraucht wurden, wie Staub auf einen, und das kleinste Körnchen konnte zum Beweis werden. Ihre einzige Chance, aus der Sache herauszukommen – und es war eine hauchdünne Chance –, war, dass sie nichts sagte, nichts tat und niemanden traf. Sie durfte arbeiten, einkaufen und schlafen. Alles andere konnte falsch ausgelegt werden.
Wenn Raisa nach Hause fuhr, würde sie die nächsten drei Stationen in dieser Metro bleiben, an der Teatralnaja in die Arbatsko-Pokrowskaja umsteigen und nach Osten weiterfahren. Leo warf einen kurzen Blick zu dem Beamten hinüber, der ihn verfolgte. Jemand war aufgestanden, um auszusteigen, und der Mann hatte sich auf den frei gewordenen Platz gesetzt. Nun schaute er harmlos aus dem Fenster, beobachtete Leo dabei aber mit Sicherheit aus dem Augenwinkel. Der Agent wusste, dass man ihn entdeckt hatte. Vielleicht hatte er das sogar gewollt. Aber das spielte alles keine Rolle, solange Raisa nur ohne Umwege nach Hause fuhr.
Der Zug hielt an der zweiten Station, der Nowokuznetzkaja. Bei der nächsten würden sie umsteigen. Die Türen gingen auf. Leo sah, wie Iwan ausstieg. Innerlich flehte er: Bitte bleib im Zug!
Raisa stieg aus, trat auf den Bahnsteig und bewegte sich auf den Ausgang zu. Sie war nicht auf dem Weg nach Hause. Leo wusste nicht, was sie vorhatte. Wenn er ihr folgte, setzte er sie der Überwachung des zweiten Agenten aus. Wenn er ihr nicht folgte, brachte er sein eigenes Leben in Gefahr. Er musste eine Entscheidung treffen. Leo blickte sich um. Der Agent hatte sich nicht gerührt. Von dort, wo er saß, hatte er auch nicht sehen können, dass Raisa ausgestiegen war. Er orientierte sich an Leo, nicht an ihr, da er davon ausging, dass Leo hinging, wo auch sie hinging.
Leo warf einen Blick zur anderen Seite, durch das Fenster, so als ob Raisa noch im benachbarten Waggon sitze und er sich dessen gerade vergewissere. Er hatte die Entscheidung impulsiv getroffen. Sein Plan hing von dem Glauben des anderen ab, Raisa sei noch in der Bahn. Ein ziemlich wackeliger Plan. Leo hatte nicht an die Massen von Menschen gedacht. Raisa und Iwan waren noch auf dem Bahnsteig, die Langsamkeit, mit der sie sich auf den Ausgang zubewegten, kam für Leo einer Folter gleich. Der Agent starrte aus dem Fenster und würde sie sehen, sobald der Zug anfuhr. Raisa schob sich weiter auf den Ausgang zu und stellte sich geduldig in der Schlange an. Aber sie hatte ja keine Eile, warum auch, sie wusste ja nicht, dass ihr eigenes und auch Leos Leben in Gefahr war, wenn sie sich nicht außer Sichtweite begab. Der Zug setzte sich in Bewegung. Ihr Waggon war beinahe auf einer Höhe mit dem Ausgang. Der andere würde Raisa mit Sicherheit sehen.
Er würde wissen, dass Leo seinen Auftrag bewusst nicht ausgeführt hatte.
Der Zug nahm Fahrt auf, kam jetzt am Ausgang vorbei.
Raisa stand weithin sichtbar da. Leo fühlte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. Vorsichtig wandte er den Kopf, um zu sehen, wie der Agent reagierte. Ein untersetzter Mann mittleren Alters und seine Frau standen im Mittelgang und nahmen dem Agenten jede Sicht auf den Bahnsteig. Der Zug ratterte in den Tunnel. Der Mann hatte Raisa nicht am Ausgang stehen sehen. Er wusste nicht, dass sie nicht mehr im Zug war. Leo fing wieder mit seiner Pantomime an und beobachtete den Nachbarwaggon.
An der Teatralnaja-Station wartete Leo bis zum letzten Moment, bevor er aus dem Zug stieg. Er tat so, als folge er immer noch seiner Frau auf dem Weg nach Hause. Er näherte sich dem Ausgang. Ein schneller Blick über die Schulter verriet ihm, dass der andere ebenfalls ausgestiegen war und versuchte, die Distanz zwischen ihnen zu verringern. Leo drängelte sich weiter vor.
Der Durchgang führte in einen größeren Zentralbereich, von wo aus man sowohl verschiedene Metrolinien als auch den Aufgang nach draußen erreichen konnte. Leo musste seinen Verfolger loswerden, ohne dass es nach Absicht aussah. Der Tunnel zu seiner Rechten führte zur Arbatsko-Pokrowskaja-Linie nach Osten, seinem Heimweg. Leo wandte sich nach rechts.
Alles hing jetzt davon ab, wann der nächste Zug kam.
Wenn er genügend Vorsprung hatte, konnte er vielleicht
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