Kind 44
Leute können uns da kein Urteil erlauben.«
Leo nickte. »Dieses Land hat viele Feinde. Unsere Revolution ist in der ganzen Welt verhasst. Wir müssen sie verteidigen. Leider auch vor uns selbst.«
Er unterbrach sich. Schließlich war er nicht hergekommen, um staatlich sanktionierte Phrasen zu dreschen.
Seine Eltern hörten auf, sich mit ihrer Mahlzeit zu beschäftigen, und wandten sich ihrem Sohn zu. Ihre Hände waren vom Hackfleisch ganz fettig.
»Gestern hat man mich aufgefordert, Raisa zu denunzieren. Meine Vorgesetzten glauben, dass sie eine Verräterin ist. Sie sind überzeugt, dass sie als Spionin für einen ausländischen Geheimdienst arbeitet. Ich habe den Befehl erhalten, gegen sie zu ermitteln.«
Ein Fetttropfen löste sich von Stepans Finger und fiel auf den Fußboden. Stepan sah auf den Fettfleck hinunter, dann fragte er: »Ist sie denn eine Verräterin?«
»Vater, sie ist Lehrerin. Sie geht zur Arbeit, kommt nach Hause, geht wieder zur Arbeit und kommt nach Hause.«
»Dann sag ihnen das. Gibt es denn irgendwelche Indizien? Warum glauben die so was?«
»Es gibt ein Geständnis von einem hingerichteten Spion. Er hat ihren Namen genannt. Hat behauptet, dass er mit ihr zusammengearbeitet hat. Aber ich glaube, das Geständnis ist eine Lüge. Ich weiß, dass dieser Spion in Wirklichkeit nichts anderes war als ein Tierarzt. Seine Verhaftung war ein Irrtum. Ich glaube, dass das Geständnis die Fälschung eines anderen Agenten ist, der mich mit der Sache reinreißen will. Ich weiß, dass meine Frau unschuldig ist. Das Ganze ist ein Racheakt.«
Stepan wischte sich an Annas Schürze die Hände ab.
»Sag ihnen die Wahrheit. Sorg dafür, dass sie dir zuhören. Stell diesen Agenten bloß. Du bist doch eine Autoritätsperson.«
»Dieses Geständnis ist als die Wahrheit anerkannt worden, ob es nun stimmt oder nicht. Es ist eine offizielle Akte, und ihr Name steht drin. Wenn ich Raisa verteidige, stelle ich damit die Gültigkeit eines staatlichen Dokuments in Frage. Wenn sie zugeben, dass es einmal nicht stimmt, dann geben sie damit praktisch zu, dass es nie stimmt. Für sie gibt es kein Zurück. Das würde das ganze System erschüttern. Es würde bedeuten, dass sämtliche Geständnisse in Frage gestellt werden könnten.«
»Kannst du nicht sagen, dass dieser Spion ... also dieser Tierarzt ... dass er sich geirrt hat?«
»Genau das habe ich vor. Aber wenn ich das Geständnis anfechte und sie mir nicht glauben, dann verhaften sie nicht nur Raisa, sondern auch mich. Wenn sie schuldig ist und ich behauptet habe, sie sei unschuldig, bin ich auch schuldig. Und das ist noch nicht alles. Ich weiß, wie sich so etwas abspielt. Es ist überhaupt nicht unwahrscheinlich, dass ihr beiden dann auch verhaftet werdet. Nach unserem Rechtssystem werden auch sämtliche Familienmitglieder eines Verurteilten zur Rechenschaft gezogen. Die Verwandtschaft macht uns mitschuldig.«
»Und wenn du ihnen sagst, dass sie eine Spionin ist?
Wenn du sie denunzierst?«
»Ich weiß es nicht.«
»Natürlich weißt du das.«
»Dann werden wir überleben. Sie nicht.«
Auf dem Herd köchelte immer noch das Wasser vor sich hin. Schließlich sagte Stepan: »Du bist hergekommen, weil du nicht weißt, was du machen sollst. Du bist gekommen, weil du ein guter Mensch bist und wir dir sagen sollen, dass du dich auch so verhalten sollst.
Dass du tun sollst, was richtig ist. Und das wäre, ihnen zu sagen, dass sie sich irren. Dass Raisa unschuldig ist.
Und auch die Konsequenzen auf sich zu nehmen, die das mit sich bringt, nicht wahr?«
»Ja.«
Stepan nickte und sah Anna an. Dann fuhr er fort:
»Aber diesen Rat kann ich dir nicht geben. Und ich bin mir nicht mal sicher, ob du geglaubt hast, dass ich dir einen solchen Rat erteilen würde. Wie könnte ich? Die einfache Wahrheit ist doch: Ich will, dass meine Frau am Leben bleibt. Ich will, dass mein Sohn am Leben bleibt. Und selber will ich auch am Leben bleiben. Um das zu erreichen, würde ich alles tun. So wie ich die Sache sehe, steht hier ein Leben gegen drei. Es tut mir leid, ich weiß, du hast mehr von mir erwartet. Aber wir sind alt, Leo. Wir würden den Gulag nicht überleben.
Sie würden uns voneinander trennen. Wir würden allein sterben.«
»Und wenn du jung wärest, wie wäre dann dein Rat ausgefallen?«
Stepan nickte. »Du hast recht. Mein Rat wäre derselbe gewesen. Aber sei mir nicht böse. Was hast du denn erwartet, als du herkamst? Hast du erwartet, dass wir sagen, in
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