Kind 44
Einer der Beamten beobachtete sie rauchend. »Können Sie bitte draußen warten?«
»Verschwende meine Zeit nicht mit Sonderwünschen.
Die Antwort auf alles lautet nein.«
Raisa zog sich um und spürte, wie die Reptilienaugen der Wache über ihren Körper wanderten. Sie zog so viele Kleidungsstücke übereinander, wie es überhaupt nur ging, eine Schicht nach der anderen. Leo machte dasselbe. Unter anderen Umständen wäre es vielleicht komisch gewesen, wie ihre Gliedmaßen vor Baumwolle und Wolle nur so anschwollen. Kaum war sie fertig angezogen, kämpften sie mit der Frage, welche ihrer Habseligkeiten sie mitnehmen sollten und welche sie notgedrungen zurücklassen mussten. Raisa musterte den Koffer. Er war gerade mal 90 Zentimeter lang, vielleicht 60 breit und 20 hoch. Sie mussten ihr Leben gewaltig einschränken, damit es da hineinpasste.
Leo war sich darüber im Klaren, dass man ihnen möglicherweise nur befohlen hatte zu packen, damit man sie ohne großes Gezeter hier herausbekam, ohne die Kämpfe, die immer mit der Erkenntnis einhergingen, dass man in den Tod geschickt wurde. Es war auf jeden Fall einfacher, Leute abzutransportieren, wenn die sich an die – egal wie kleine – Hoffnung klammerten, dass sie überleben könnten. Aber was sollte er schon machen? Aufgeben? Kämpfen? Rasch stellte er ein paar Berechnungen an. Wertvollen Platz musste er opfern für das ›Buch der Propagandisten und den Kurzen Lehrgangs‹ weil man beide nicht zurücklassen konnte, ohne dass es einem als subversive politische Haltung ausgelegt wurde. In ihrer gegenwärtigen Situation wären solche Unbekümmertheiten selbstmörderisch. Er griff sich die Bücher und legte sie in den Koffer. Es waren die ersten Teile, die einer von ihnen überhaupt einpackte. Der junge Wachsoldat beobachtete alles, registrierte, was eingepackt wurde, was sie auswählten. Leo berührte Raisa am Arm.
»Pack unsere Schuhe ein. Nimm die besten, für jeden ein Paar.« Schuhe waren schwer zu bekommen, die konnte man gut eintauschen.
Leo sammelte Kleidungsstücke zusammen, Wertgegenstände und ihre Fotos. Fotografien von ihrer Hochzeit und von seinen Eltern Stepan und Anna. Von Raisas Familie gab es nichts. Sie waren im Großen Vaterländischen Krieg umgekommen, als man ihr Dorf dem Erdboden gleichgemacht hatte. Raisa hatte alles verloren außer den Kleidern, die sie am Leib trug. Als sein Koffer voll war, fiel Leos Blick auf das gerahmte Foto von sich selbst, dem Kriegshelden, dem Panzerknacker, dem Befreier des besetzten Heimatlandes. Er nahm die Fotografie aus dem Rahmen. Nachdem er sie jahrelang sorgsam gehütet und verehrt hatte wie eine heilige Ikone, faltete er den Zeitungsausschnitt jetzt in der Mitte zusammen und warf ihn in den Koffer.
Ihre Zeit war um. Leo machte seinen Koffer zu, Raisa den ihren. Er fragte sich, ob sie diese Wohnung jemals wiedersehen würden. Vermutlich nicht. Man eskortierte sie nach unten. Fünf Personen quetschten sich dicht aneinandergedrängt in den Lift. Unten wartete ein Wagen. Zwei Beamte setzten sich nach vorne, der dritte nach hinten, eingeklemmt zwischen Leo und Raisa. Er stank aus dem Mund.
»Ich würde gern noch bei meinen Eltern vorbeifahren.
Ich möchte mich von ihnen verabschieden.«
»Keine Sonderwünsche, verdammt noch mal.«
***
Es war fünf Uhr morgens, und in der Bahnhofshalle herrschte schon Hochbetrieb. Überall Soldaten, zivile Reisende und Bahnhofspersonal, und alles wuselte um die Transsibirische Eisenbahn herum. Auf der Lok, die noch aus Kriegszeiten mit Eisenplatten gepanzert war, stand in großen, erhabenen Lettern: HEIL DEM KOM-MUNISMUS. Während Reisende bereits in den Zug einstiegen, warteten Leo und Raisa noch mit ihren Köfferchen am Ende des Bahnsteigs, zu beiden Seiten von ihrer bewaffneten Eskorte flankiert. Niemand kam ihnen auf dem belebten Bahnhof zu nahe, gerade so, als seien sie von einem ansteckenden Virus befallen.
Sie kamen sich vor wie in einer Blase. Weder hatte man ihnen irgendwelche Erklärungen gegeben, noch hatte Leo sich die Mühe gemacht nachzufragen. Er hatte keine Ahnung, wohin sie fuhren oder auf wen sie warteten. Es bestand immer noch die Möglichkeit, dass man sie in verschiedene Gulags schickte und sie einander nie wiedersehen würden. Andererseits war dies ganz eindeutig ein Personenzug, und Leo hatte auch noch keine Zak-Waggons entdeckt, die roten Viehwagen, mit denen man die Gefangenen transportierte.
Würden sie am Ende mit heiler Haut
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