Kind 44
für seine plötzliche Erkrankung hätten herausfinden können. Auch wenn man alle moralischen Bedenken beiseite schob, war Stalins Säuberungsaktion schon allein aus taktischen Erwägungen ein Fehler gewesen. Damit hatte er sich selbst entblößt. Leo hatte keinen blassen Schimmer, ob Stalin ermordet worden war oder nicht. Aber dass seine Ärzte verhaftet worden waren, hatte mutmaßlichen Attentätern zumindest freie Hand gelassen. Sie hatten sich lediglich zurücklehnen und abwarten müssen, bis er starb, in der Gewissheit, dass eben die Männer und Frauen, die sie hätten aufhalten können, hinter Gittern saßen. Aber es war natürlich auch möglich, dass Stalin ganz einfach krank geworden war und niemand gewagt hatte, sich über seine Befehle hinwegzusetzen und die Ärzte freizulassen.
Denn wenn Stalin wieder gesund geworden wäre, hätte man sie möglicherweise wegen Ungehorsams hingerichtet.
Aber eigentlich war Leo diese Augenwischerei egal.
Wichtig war nur, dass der Mann tot war. Jedermanns Gefühl für Ordnung und alle Gewissheit hatte sich plötzlich in Luft aufgelöst. Welche Leute würden Stalins Nachfolge antreten? Wie würden sie das Land führen? Was für Entscheidungen würden sie fällen? Welche Beamten würden begünstigt und welche abgesägt werden? Was unter Stalin erlaubt gewesen war, wäre es unter eine neuen Führung vielleicht nicht mehr. Allein schon die Abwesenheit eines allmächtigen Führers sorgte für eine vollständige Lähmung des Apparats.
Niemand war bereit, irgendwelche Entscheidungen zu treffen, bevor er nicht wusste, dass diese Entscheidungen auch gutgeheißen wurden. Jahrzehntelang hatte keiner mehr Entscheidungen aus Überzeugung gefällt, sondern nur noch im Hinblick darauf, was Stalin gefallen würde. Leben und Tod von Menschen hatten davon abgehangen, mit welchen Anmerkungen er Listen versehen hatte. Ein unterstrichener Name bedeutete, dass der Betreffende am Leben blieb, die anderen waren dem Tode geweiht. So einfach war das Rechtssystem – unterstrichen oder nicht. Wenn er die Augen schloss, konnte Leo sich das stumme Entsetzen in der Lubjanka jetzt lebhaft vorstellen. Sie hatten ihren eigenen moralischen Kompass derart ignoriert, dass er mittlerweile gar nicht mehr funktionierte. Aus Norden war Süden und aus Osten Westen geworden. Aber was war richtig? Sie wussten es nicht. Sahen sich außerstande, Entscheidungen zu treffen. In solchen Zeiten war es am sichersten, wenn man so wenig tat wie möglich.
Den problematischen Fall eines Leo Stepanowitsch Demidow und seiner Frau Raisa Gawrilowna Demidowa, der ohne Frage dazu angetan war, Uneinigkeit und Aufruhr zu stiften, schob man unter diesen Umständen am besten erst einmal beiseite. Darum war es zu diesen Verzögerungen gekommen. Niemand wollte sich mit der Sache befassen, alle waren viel zu sehr damit beschäftigt, sich mit den neuen Machtgruppierungen im Kreml zu arrangieren. Um die Sache noch zu verkomplizieren, hatte Lawrenti Beria, Stalins engster Berater – wenn irgendjemand Stalin vergiftet hatte, dann er, vermutete Leo –, sich bereits als neuer Führer in Pose geworfen und die Idee verworfen, es habe ein Komplott der Ärzte gegeben. Er hatte angeordnet, sie wieder freizulassen. Verdächtige wurden freigelassen, weil sie unschuldig waren – was war denn jetzt los? Leo konnte sich an keinen Präzedenzfall erinnern. Vielleicht hielt man es ja unter solchen Gegebenheiten für riskant, einem hochdekorierten Kriegshelden, der es sogar auf die Titelseite der ›Prawda‹ geschafft hatte, den Prozess zu machen. Und als es am 6. März an der Tür geklopft hatte, hatte man Leo und Raisa nicht etwa ihr Schicksal offenbart, sondern ihnen gewährt, dem Staatsbegräbnis des großen Führers beizuwohnen.
Leo und Raisa, die offiziell immer noch unter Hausarrest standen, schlossen sich also pflichtschuldigst in Begleitung zweier Bewacher den Menschenmassen an, die auf dem Weg zum Roten Platz waren. Viele weinten, manche sogar herzzerreißend, Männer, Frauen und Kinder. Leo fragte sich, ob es unter den Hunderttausenden, die sich hier in kollektiver Trauer versammelt hatten, einen Einzigen gab, der nicht irgendeinen Verwandten oder Freund an diesen Mann verloren hatte, den man jetzt öffentlich beweinte. Die Atmosphäre war aufgeladen mit einer überwältigenden Tristesse, was vielleicht mit der Idolisierung dieses Toten zu tun hatte.
Selbst bei den brutalsten Verhören hatte Leo viele Leute schreien hören, dass Stalin
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