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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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bestimmt eingreifen würde, wenn er nur von diesen Exzessen des MGB wüsste. Was auch immer der wahre Grund für diese Trauer war, auf jeden Fall war das Begräbnis ein legitimes Ventil für in Jahren aufgestauten Jammer, eine Gelegenheit zu weinen, seinen Nachbarn zu umarmen und seine Betrübnis zu zeigen. Zuvor war das nicht erlaubt gewesen, weil es ja Kritik am Staat beinhaltete.
    Die Hauptstraßen waren derart verstopft mit Menschen, dass man kaum atmen und sich nur mit den Massen weitertreiben lassen konnte. Die ganze Zeit ließ Leo Raisas Hand nicht los, und während sich von allen Seiten fremde Schultern an ihn drückten, drehte er sich immer wieder um, um sich zu vergewissern, dass sie nicht auseinandergerissen wurden. Von ihren Wachen waren sie schon sehr schnell getrennt worden.
    Als sie sich dem Platz näherten, wurde die Menschenmasse noch dichter zusammengedrängt. Als er den Druck und die sich steigernde Hysterie bemerkte, entschied Leo, dass es genug war. Durch Zufall waren sie an den Rand der Menge gedrängt worden. Er drückte sich in einen Hauseingang und half Raisa aus dem Pulk heraus. Hier suchten sie Schutz und sahen zu, wie sich die Ströme von Menschen weiter an ihnen vorbeischoben. Es war die richtige Entscheidung gewesen. Weiter vorne waren schon Leute zu Tode getrampelt worden.
    In dem Chaos hätten sie versuchen können zu fliehen.
    Sie hatten auch darüber nachgedacht und sich flüsternd in dem Hauseingang beraten. Ihre Wachen hatten sie ja verloren. Raisa hatte fliehen wollen. Aber wenn sie das taten, hätten sie dem MGB einen Grund geliefert, sie zu exekutieren. Bislang hatten sie Glück gehabt.
    Leo setzte auf die eine Karte, dass sie es überstehen würden.
    ***
    Die letzten Reisenden waren eingestiegen. Aber der Schaffner, der neben der Lok ein Grüppchen Uniformierter stehen sah, hielt den Zug noch für sie auf. Der Lokführer lehnte sich aus dem Führerhaus und versuchte herauszubekommen, was los war. Durch die Fenster warfen neugierige Reisende verstohlene Blicke auf das junge Paar, das offenbar in Schwierigkeiten steckte.
    Leo bemerkte, dass ein Uniformierter sich ihnen näherte. Es war Wassili. Leo hatte schon mit ihm gerechnet. Wassili würde sich kaum die Gelegenheit entgehen lassen, ihn zu demütigen.
    Leo spürte, wie die Wut in ihm aufstieg, aber es war unbedingt notwendig, dass er sich beherrschte. Vielleicht wurde ihm noch eine Falle gestellt.
    Raisa war Wassili noch nie begegnet, aber sie kannte Leos Beschreibung. Ein Heldengesicht mit dem Herzen eines Henkers.
    Schon auf den ersten Blick sah sie, dass irgendetwas mit dem Mann nicht stimmte. Zweifellos war er attraktiv, aber auf eine Weise, als sei dieses Lächeln nur dazu da, seine Böswilligkeit zu unterstreichen. Als er sie schließlich erreichte, registrierte sie seine Befriedigung beim Anblick von Leos Erniedrigung und seine Enttäuschung darüber, dass diese nicht größer war.
    Wassili grinste jetzt breit. »Ich habe darauf bestanden, dass sie warten, damit ich mich noch verabschieden kann. Damit ich dir berichten kann, was man für dich entschieden hat. Ich wollte es dir persönlich sagen, das kannst du sicher verstehen?«
    Er genoss es. Sosehr Leo diesen Mann auch verabscheute, wäre es dumm gewesen zu riskieren, dass er jetzt wütend wurde, wo sie schon so viel durchgestanden hatten. Kaum hörbar murmelte er: »Ich danke dir.«
    »Du bist versetzt worden. Bei den ganzen unbeantworteten Fragen, die auf dir lasten, wäre es unmöglich gewesen, dich im MGB zu behalten. Du gehst zur Miliz.
    Nicht als Syschtschik, als Kriminalbeamter, sondern im niedrigsten Dienstgrad, als Uschastkowje. Du wirst der sein, der die Untersuchungszellen saubermacht. Der die Berichte abtippt. Der macht, was man ihm sagt.
    Wenn du überleben willst, solltest du dich schnell daran gewöhnen, Befehle zu empfangen.«
    Leo konnte Wassilis Enttäuschung verstehen. Eine Arbeitsstelle im Exil, irgendwo in einer örtlichen Polizeidienststelle – das war eine leichte Strafe. Bedachte man die Schwere der Anschuldigungen, hätten ihnen auch 25 Jahre in den Goldminen von Kolyma bevorstehen können, wo die Temperaturen bei 50 Grad unter null lagen, die Hände der Gefangenen von Erfrierungen entstellt waren und die durchschnittliche Überlebensdauer drei Monate betrug. Sie waren nicht nur mit dem Leben, sondern auch mit ihrer Freiheit davongekommen.
    Leo konnte sich nicht vorstellen, dass Generalmajor Kuzmin das aus Sentimentalität getan hatte.

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