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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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davonkommen?
    Bisher hatten sie jedenfalls Glück gehabt. Sie waren immer noch am Leben und immer noch zusammen. Es war mehr, als Leo zu hoffen gewagt hatte.
    Nach seiner Aussage hatte man ihn nach Hause geschickt und bis zum Zeitpunkt einer Entscheidung unter Hausarrest gestellt. Er hatte damit gerechnet, dass es nicht länger als einen Tag dauern würde. Auf dem Weg zu ihrer Wohnung, auf dem Treppenabsatz zum 14.
    Stock, fiel ihm ein, dass er immer noch die belastende hohle Münze in der Tasche hatte. Er warf sie über die Brüstung. Vielleicht hatte Wassili sie ihnen untergeschoben, vielleicht auch nicht. Was spielte das schon für eine Rolle?
    Als Raisa aus der Schule nach Hause gekommen war, hatte sie vor der Tür zwei Beamte vorgefunden. Sie war durchsucht worden, danach hatte man ihr befohlen, in der Wohnung zu bleiben. Leo hatte sie über ihre missliche Lage aufgeklärt, über den gegen sie erhobenen Verdacht, seine persönlich durchgeführten Ermittlungen und seine Weigerung, die Anschuldigungen zu bestätigen. Er musste ihr nicht erklären, dass ihre Chancen zu überleben hauchdünn waren. Er hatte geredet, sie hatte reglos zugehört. Kein Kommentar, keine Frage. Als er geendet hatte, war ihre Reaktion für ihn überraschend gekommen.
    »Es war naiv zu glauben, dass uns das nicht auch passieren könnte.«
    Sie hatten in der Wohnung gesessen und damit gerechnet, dass der MGB jede Minute kommen würde. Weder sie noch er hatten sich darum gekümmert, etwas zu essen zu machen, sie waren beide nicht hungrig, obwohl es angesichts dessen, was ihnen möglicherweise bevorstand, vernünftig gewesen wäre, so viel wie möglich zu essen. Sie hatten sich nicht ausgezogen und nicht ins Bett gelegt, hatten sich nicht vom Küchentisch gerührt. Schweigend hatten sie dagesessen und gewartet. Angesichts der Tatsache, dass sie sich vielleicht nie wiedersehen würden, hatte Leo das Bedürfnis verspürt, mit seiner Frau zu reden, ihr all die Dinge zu sagen, die noch gesagt werden mussten. Aber es war ihm nicht eingefallen, was das sein könnte. Solange er sich erinnern konnte, war dies die längste Zeit gewesen, die sie je an einem Stück und von Angesicht zu Angesicht miteinander verbracht hatten. Und keiner von ihnen hatte gewusst, was er mit dieser Zeit anstellen sollte.
    In dieser Nacht war das Klopfen an der Tür nicht gekommen. Vier Uhr nachts war vorbei, und keine Verhaftung. Als es dann Mittag wurde, bereitete Leo schließlich ein Frühstück zu. Er fragte sich, warum es so lange dauerte. Als es endlich das erste Mal an der Tür klopfte, sprangen sie keuchend auf, weil sie erwarteten, dass dies das Ende war. Die Geheimdienstler waren da, um sie abzuholen, voneinander zu trennen und separat zu verhören. Aber es waren immer nur harmlose Angelegenheiten. Die Wache wechselte, ein Beamter wollte aufs Klo, konnte man ihnen was zu essen abkaufen? Vielleicht fanden sie einfach keine Beweise, vielleicht war ihre Unschuld erwiesen und die Anklage in sich zusammengefallen. Aber Leo hatte sich dieser Illusion nur kurz hingegeben. Aus Mangel an Beweisen wurden Anklagen nie und nimmer fallengelassen. Dennoch, aus einem Tag wurden zwei und aus zwei vier.
    Nach einer Woche ihres Arrests war eines Tages einer der Beamten mit aschfahlem Gesicht zu Leo und Raisa in die Wohnung gekommen. Jetzt war es so weit. Stattdessen aber hatte der Mann ihnen mit bebender Stimme verkündet, ihr Führer Stalin sei tot. Erst in diesem Moment hatte Leo sich an ein Fünkchen Hoffnung geklammert, ob sie nicht vielleicht doch eine Chance hatten zu überleben.
    Die Zeitungen waren hysterisch gewesen, die Wachen ebenso, aber an Fakten zu Stalins Tod war kaum heranzukommen. Schließlich hatte sich Leo mühsam zusammengereimt, dass Stalin friedlich in seinem Bett gestorben war. Seine letzten Worte hatten angeblich ihrem großartigen Land und dessen großartiger Zukunft gegolten. Leo hatte das keine Sekunde lang geglaubt. Er kannte sich zu gut mit Paranoia und Komplotten aus, um nicht die Schwachstellen an der Geschichte zu erkennen. Von seiner Arbeit her wusste er, dass Stalin erst kürzlich im Rahmen einer Säuberungsaktion gegen bekannte jüdische Bürger die berühmtesten Ärzte hatte verhaften lassen. Ärzte, die ihr ganzes Berufsleben damit verbracht hatten, ihn bei guter Gesundheit zu erhalten. Es konnte kein Zufall sein, dass Stalin genau dann eines angeblich natürlichen Todes gestorben war, als es keine medizinischen Fachkräfte mehr gab, die den Grund

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