Kind 44
kaum fassen, dass es so schlimm war. Er würde die Sache beim Anstaltsdirektor zur Sprache bringen. Aber das war nicht die passende Gelegenheit.
Nachdem sie das Erdgeschoss durchsucht hatten, kämpften sie sich nach oben vor. Sorkin versuchte die Rasselbande daran zu hindern, dass sie ihnen folgte, machte ein strenges Gesicht und gestikulierte herum, aber das brachte sie nur zum Lachen, als sei es ein Spiel. Wenn er die Kinder sanft zurückschob, kamen sie sofort wieder angelaufen und wollten, dass er sie noch mal zurückschob. Ungeduldig raunzte Nesterow: »Jetzt lassen Sie sie doch in Ruhe.« Sie mussten einfach hinnehmen, dass der Tross ihnen folgte.
Die Kinder in den oberen Räumen waren älter. Nesterow vermutete, dass die Schlafsäle vage nach Altersgruppen aufgeteilt waren. Ihr Verdächtiger war siebzehn, das war die Altersgrenze für diese Institution.
Danach wurden die Insassen zu den mörderischsten Arbeiten expediert, Arbeiten, die sonst kein Mensch machen wollte. Arbeiten, bei denen die durchschnittliche Lebenserwartung 30 Jahre betrug. Nesterow und Sorkin erreichten das Ende des Flurs. Jetzt war nur noch ein Schlafsaal übrig.
Warlam saß mit dem Rücken zur Tür und war völlig darin versunken, die Kinderdecke zu streicheln und sich zu fragen, warum das Baby nicht mehr schrie. Er stupste es mit einem schmutzigen Finger an. Plötzlich erscholl eine Stimme im Raum, und er richtete sich kerzengerade auf.
»Warlam! Steh auf und dreh dich um. Schön langsam.«
Warlam hielt den Atem an und schloss die Augen, so als wenn dadurch die Stimme wieder verschwinden würde. Es klappte nicht.
»Ich sag’s nicht noch einmal. Steh auf und dreh dich um.«
Nesterow setzte sich in Bewegung und marschierte auf Warlam zu. Er konnte nicht sehen, was der Junge versteckte. Er konnte kein Baby schreien hören. Alle anderen Jungen im Schlafsaal hatten sich aufgesetzt und glotzten fasziniert. Ohne Vorwarnung erwachte Warlam zum Leben, klaubte etwas auf und wirbelte herum.
Er hielt das Baby im Arm. Es fing an zu schreien. Ein Schauer der Erleichterung durchlief Nesterow. Wenigstens lebte das Kind noch. Warlam hielt es fest gegen seine Brust gedrückt, die Arme schlangen sich um den empfindlichen Hals.
Nesterow blickte sich prüfend um. Sein Stellvertreter war an der Tür stehen geblieben, umgeben von den neugierigen Kindern. Er zielte auf Warlams Kopf und spannte den Hahn. Schussbereit wartete er auf den Befehl zum Töten. Er hatte freie Schussbahn, aber er war bestenfalls ein mittelmäßiger Schütze. Beim Anblick seiner Waffe fingen einige Kinder an zu schreien, andere lachten und schlugen auf die Matratzen ein. Die Situation geriet langsam außer Kontrolle. Warlam wurde zunehmend panisch. Nesterow steckte seine Pistole ins Halfter, hob in dem Bemühen, Warlam zu beruhigen, die Hände und rief über das Getöse hinweg:
»Gib mir das Kind.«
»Ich bin dermaßen in Schwierigkeiten.«
»Bist du gar nicht. Ich sehe ja, dass dem Baby nichts fehlt. Das hast du gut gemacht. Du hast dich um das Kleine gekümmert. Ich bin hier, um dir zu gratulieren.«
»Ich hab’s gut gemacht?«
»Hast du.«
»Kann ich es behalten?«
»Ich muss nachsehen, ob dem Baby auch wirklich nichts fehlt, nur um sicherzugehen. Danach können wir über alles reden. Kann ich mir das Kind mal anschauen?«
Warlam ahnte, dass sie böse auf ihn waren und ihm das Baby wegnehmen würden und ihn in einen gelblosen Raum sperren würden. Er presste das Baby fester an sich, ganz fest, noch fester, bis die Decke sich vor seinen Mund drückte. Er trat zurück bis ans Fenster und sah draußen die geparkten Miliz-Autos und bewaffnete Männer, die das Gebäude umzingelten.
»Ich bin dermaßen in Schwierigkeiten.«
Vorsichtig schob Nesterow sich vor. Mit Gewalt würde er das Baby nicht aus Warlams Griff befreien können.
Bei einem Kampf konnte es zu Tode gequetscht werden. Er warf dem Leutnant einen raschen Blick zu, und der gab ihm nickend zu verstehen, dass er immer noch schussbereit war. Nesterow schüttelte den Kopf. Das Baby war zu dicht an Warlams Gesicht. Das Risiko eines Unfalls war zu groß. Sie mussten es anders versuchen.
»Warlam, niemand wird dich schlagen oder dir wehtun. Gib mir das Kind, und dann können wir über alles reden. Niemand wird böse mit dir sein. Du hast mein Wort. Ich verspreche es.« Nesterow riskierte noch einen Schritt und nahm damit seinem Leutnant das Schussfeld. Er blickte flüchtig auf die Ansammlung von gelbem Krimskrams
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