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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Vielmehr war es so, dass er sich mit der Verurteilung eines Schützlings selbst blamiert hätte. In Zeiten politischer Instabilität war es viel besser, viel schlauer, ihn einfach unter dem Vorwand einer Versetzung wegzuschicken.
    Kuzmin wollte nicht riskieren, dass man sein Urteilsvermögen unter die Lupe nahm. Denn wenn Leo ein Spion war, warum hatte Kuzmin ihn dann bei Beförderungen immer bevorzugt? Nein, solche Fragen waren unangenehm. Es war leichter und sicherer, ihn einfach unter den Teppich zu kehren. Leo war klar, dass jedes Zeichen von Erleichterung Wassili weiter aufbringen würde, und er tat sein Bestes, so niedergeschlagen wie möglich dreinzuschauen.
    »Ich werde meine Pflicht tun, wo immer man mich hinschickt.«
    Wassili trat einen Schritt vor und drückte Leo die Fahrkarten und die Papiere in die Hand. Leo nahm die Dokumente an sich und wandte sich zum Zug.
    In dem Moment, als Raisa den Wagen bestieg, rief Wassili ihr hinterher: »Es muss schwer für Sie gewesen sein zu erfahren, dass Ihr Mann Sie beschattet hat. Und nicht nur einmal. Das wird er Ihnen doch erzählt haben? Er hat Sie zweimal bespitzelt. Beim ersten Mal ging es gar nicht um Staatsangelegenheiten. Da dachte er nicht, Sie seien eine Spionin. Er dachte, Sie seien ein Flittchen. Das müssen Sie ihm verzeihen. Jeder hat schon mal seine Zweifel. Und Sie sind schön, obwohl ich persönlich nicht der Meinung bin, dass Sie es wert sind, dass man alles für Sie aufgibt. Ich vermute, wenn Ihr Mann erst einmal kapiert hat, in was für ein Scheißloch wir ihn da geschickt haben, dann wird er anfangen, Sie zu hassen. Wenn Sie mich fragen, ich hätte meine Wohnung behalten und Sie als Verräterin erschießen lassen. Ich kann nur vermuten, dass Sie echt gut im Bett sind.«
    ***
    Raisa staunte über die Obsession dieses Kerls gegenüber ihrem Mann, aber sie sagte nichts. Jede Gegenrede konnte sie das Leben kosten. Ohne sich darum zu kümmern, dass einer ihrer Schnürsenkel aufgegangen war, nahm Raisa ihren Koffer und öffnete die Wagentür.
    Leo folgte ihr und vermied es, sich umzudrehen. Wenn er jetzt Wassilis höhnisches Grinsen sah, war es gut möglich, dass er sich nicht mehr beherrschen konnte.
    Als der Zug aus dem Bahnhof rollte, starrte Raisa aus dem Fenster. Es gab keine Sitzplätze mehr, und sie mussten stehen. Eine Zeit lang schwiegen sie beide und sahen zu, wie die Stadt vorbeizog. Schließlich sagte Leo: »Es tut mir leid.«
    »Ich bin sicher, er hat gelogen. Er hätte alles gesagt, nur um dir wehzutun.«
    »Er hat die Wahrheit gesagt. Ich habe dich bespitzeln lassen. Und es hatte nichts mit der Arbeit zu tun. Ich dachte ...«
    »Dass ich was mit einem anderen hatte?«
    »Es gab eine Zeit, da hast du nicht mehr mit mir gesprochen. Mich nicht mehr angerührt. Nicht mit mir geschlafen. Wir waren wie Fremde. Und ich verstand nicht, warum.«
    »Man kann nicht einen MGB-Offizier heiraten und glauben, man würde nicht beschattet. Aber sag mir, Leo, wie hätte ich dir denn untreu sein können? Mal ganz praktisch gedacht. Ich hätte doch mein Leben riskiert. Wir hätten nicht gestritten. Du hättest mich einfach verhaftet.«
    »Du hast geglaubt, dass ich so was machen würde?«
    »Kannst du dich noch an meine Freundin Soja erinnern? Ich glaube, du hast sie mal kennengelernt.«
    »Vielleicht ...«
    »Ja genau, du kannst dich nie an die Namen von Leuten erinnern, nicht wahr? Ich frage mich, warum.
    Kannst du nachts besser schlafen, wenn du alles in deinem Schädel ausradierst?«
    Raisa sprach schnell, gefasst und mit einer Eindringlichkeit, die Leo an ihr nicht kannte. Sie fuhr fort:
    »Doch, doch, du hast Soja kennengelernt. Du hast es dir nur nicht gemerkt, aber sie war ja auch, was die Partei betraf, nicht besonders wichtig. Man hat ihr zwanzig Jahre aufgebrummt. Sie haben sie verhaftet, als sie aus einer Kirche kam, und ihr antistalinistische Gebete vorgeworfen. Gebete, Leo! Sie haben sie wegen der Gedanken in ihrem Kopf verurteilt.«
    »Warum hast du mir das nicht gesagt? Ich hätte vielleicht helfen können.«
    Raisa schüttelte den Kopf. Leo fragte: »Glaubst du etwa, ich habe sie denunziert?«
    »Wüsstest du das überhaupt noch? Du kannst dich doch noch nicht mal daran erinnern, wer sie ist.«
    Leo war konsterniert. So hatten sie beide noch nie miteinander gesprochen. Es war immer nur um häusliche Dinge gegangen. Höfliche Konversation, nie hatten sie sich angeschrien, nie gestritten.
    »Selbst wenn du sie nicht denunziert hast, Leo, wie

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