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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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sie so wütend gemacht, dass sie es nicht über sich bringen konnte, mehr als ein paar Worte mit ihm zu wechseln.
    Letzten Endes aber war es auf eine ganz nüchterne Frage hinausgelaufen: Wollte sie überleben? Raisa hatte schon einmal überlebt, und die Tatsache, dass sie eine Überlebende war, dass sie als Einzige von ihrer Familie übrig war, hatte sie geprägt. Ihre Entrüstung über Sojas Verhaftung war Luxus, damit erreichte sie gar nichts. Also war sie in sein Bett gestiegen, hatte neben ihm geschlafen, mit ihm geschlafen. Sie hatte ihm das Abendessen gekocht und die Geräusche gehasst, die er beim Essen machte. Sie hatte seine Klamotten gewaschen und seinen Geruch verabscheut.
    In den letzten paar Wochen hatte sie untätig zu Hause herumgesessen und ganz genau gewusst, dass er gerade abwog, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte. War es klug gewesen, ihr Leben zu schonen?
    War sie das Risiko wert gewesen? War sie hübsch genug, nett genug, gut genug? Wenn nicht jede Geste, jeder Blick von ihr ihm gefiel, war sie in Todesgefahr.
    Nur gut, dass das jetzt vorbei war. Sie hatte es so satt, ohnmächtig und von seinem guten Willen abhängig zu sein. Und doch schien er jetzt dem Eindruck zu erliegen, sie stehe in seiner Schuld. Dabei hatte er nur das ausgesagt, was ohnehin jeder wusste: Sie war keine internationale Spionin, sondern eine Oberschullehrerin.
    Und als Gegenleistung wollte er nun eine Liebeserklärung. Es war beschämend. Er war doch gar nicht mehr in der Position, etwas zu verlangen. Er hatte ebenso wenig Macht über sie wie sie über ihn. Sie saßen beide in der Tinte. Ihr gesamter Besitz war zusammengeschrumpft auf einen Koffer pro Nase, sie waren beide verbannt in irgendeine Stadt weit ab vom Schuss. Sie waren sich jetzt so ebenbürtig wie noch nie zuvor.
    Wenn er ein Liebeslied hören wollte, dann musste er die erste Strophe schon selbst singen.
    Leo saß da und brütete über Raisas Worten. Es schien, als habe sie sich das Recht zugesprochen, über ihn zu urteilen und ihn zu verachten, während sie selbst ihre Hände in Unschuld wusch. Aber als sie ihn geheiratet hatte, hatte sie gewusst, womit er sein Geld verdiente, hatte die Vergünstigungen seiner Position genossen, hatte sich die ausgesuchten Köstlichkeiten schmecken lassen, die er mitbringen konnte, hatte ihre Kleider im gut sortierten Speztorg gekauft. Wenn seine Arbeit sie so angewidert hatte, warum hatte sie sich dann nicht gegen seine Avancen verwahrt? Jeder wusste doch, dass man Kompromisse eingehen musste, wenn man überleben wollte. Er hatte vielleicht widerwärtige Dinge getan, moralisch verwerfliche Dinge. Aber für die meisten Leute war ein reines Gewissen ein unerschwinglicher Luxus, und Raisa konnte sich nun wirklich nicht darauf berufen. Hatte sie ihren Unterricht so gehalten, dass er ihren ehrlichen Überzeugungen entsprach? Offensichtlich nicht, wenn man sich jetzt ihre Entrüstung über den staatlichen Sicherheitsapparat anhörte. Aber in der Schule hatte sie ihn doch ganz bestimmt gutgeheißen, hatte ihren Schülern erklärt, wie ihr Staat funktionierte, hatte ihn gelobt und sie indoktriniert, an ihn zu glauben, hatte sie sogar dazu ermuntert, andere zu denunzieren. Denn wenn nicht, dann wäre sie höchstwahrscheinlich selbst von einem ihrer Schüler denunziert worden. Ihre Aufgabe hatte nicht nur darin bestanden, sie auf Parteilinie zu bringen, sondern auch darin, ihren kritischen Verstand zu neutralisieren. Und genau dieselbe Aufgabe würde sie auch in der neuen Stadt haben. So wie Leo es sah, waren er und seine Frau Rädchen im selben Getriebe.
    In Mutawa hatte der Zug eine Stunde Aufenthalt. Raisa durchbrach die Schweigsamkeit, die schon den ganzen Tag zwischen ihnen geherrscht hatte. »Wir sollten etwas essen.«
    Genau genommen schlug sie damit vor, sich auch weiterhin an das pragmatische Arrangement zu halten, das bislang das Fundament ihrer Ehe gewesen waren. Die Herausforderungen, die auf sie zukamen, überstehen zu wollen, das war es, was sie zusammenschweißte, nicht Liebe. Sie stiegen aus dem Eisenbahnwagen. Auf dem Bahnsteig lief eine Frau mit einem Weidenkorb auf und ab. Sie kauften ihr hartgekochte Eier, ein Papiertütchen Salz und ein paar Stücke zähes Roggenbrot ab. Dann saßen sie nebeneinander auf einer Bank, pellten ihre Eier, fingen die Schalen in ihrem Schoß auf und sprachen kein Wort miteinander.
    ***
    Als der Zug die Berge erklomm, verlor er an Geschwindigkeit. Sie fuhren durch düstere

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