Kind 44
auf dem Boden. Er kannte Warlam schon von einem früheren Vorfall, wo ein gelbes Kleid von einer Wäscheleine gestohlen worden war. Es war Nesterow nicht entgangen, dass das Baby in eine gelbe Decke gewickelt war.
»Wenn du mir das Kind gibst, frage ich die Mutter, ob du die gelbe Decke behalten darfst. Ich bin sicher, sie sagt ja. Alles, was sie will, ist das Baby.«
Das war ein faires Angebot, fand Warlam, und er beruhigte sich. Er streckte die Arme aus und hielt Nesterow das Baby hin. Der sprang vor und riss es ihm aus den Händen. Er schaute nach, ob es auch wirklich unverletzt war, und übergab es dann an seinen Stellvertreter. »Bring es ins Krankenhaus.« Der Leutnant eilte hinaus. Als sei nichts passiert, setzte Warlam sich mit dem Rücken zur Tür auf den Boden und verteilte die Teile seiner Sammlung neu, um die Lücke zu füllen, die das fehlende Baby hinterlassen hatte. Die anderen Kinder im Schlafsaal waren wieder ruhig. Nesterow hockte sich neben ihn.
Warlam fragte: »Wann kann ich die Decke haben?«
»Erst musst du mit mir kommen.«
Warlam sortierte weiter seine Sammlung. Nesterows Blick fiel auf das gelbe Buch. Es war ein Militärhandbuch, also ein Geheimdokument. »Wo hast du das denn her?«
»Gefunden.«
»Ich schaue es mir mal an. Regst du dich auch nicht auf, wenn ich es mir mal anschaue?«
»Sind deine Finger sauber?«
Nesterow bemerkte, dass Warlams eigene Hände schmutzig waren.
»Meine Finger sind sauber.«
Nesterow nahm sich das Buch und blätterte willkürlich darin herum. In der Mitte war irgendetwas zwischen die Seiten gepresst. Er drehte das Buch um und schüttelte es aus. Eine dicke blonde Haarlocke fiel zu Boden.
Er hob sie auf und rieb sie zwischen seinen Fingern.
Warlam wurde rot.
»Ich bin dermaßen in Schwierigkeiten.«
800 Kilometer östlich von Moskau
16. März
Die Frage, ob sie ihn liebe, hatte Raisa nicht beantwortet. Aber sie hatte auch gerade erst zugegeben, dass sie ihn mit der Schwangerschaft angelogen hatte.
Wenn sie jetzt gesagt hätte: Ja, ich liebe dich, ich habe dich immer geliebt, hätte Leo ihr nicht geglaubt. Sie hatte weiß Gott keine Lust, ihm jetzt tief in die Augen zu schauen und Süßholz zu raspeln. Was sollte die Frage überhaupt? Es kam einem beinahe so vor, als habe er eine Art Erscheinung gehabt, eine Offenbarung, dass ihre Ehe sich nicht auf Liebe und Zuneigung gründete. Wenn sie wahrheitsgemäß geantwortet hätte: Nein, ich habe dich nie geliebt, dann wäre er auf einmal das Opfer gewesen, mit dem stillschweigenden Vorwurf, dass sie sich die Ehe mit ihm erschwindelt hatte. Plötzlich sah sie aus wie eine Hochstaplerin, die mit seinem weichen Herzen gespielt hatte. Plötzlich machte er auf romantisch. Vielleicht war es der Schock über den Verlust seiner Arbeit. Aber seit wann war Liebe Teil ihrer Abmachung? Danach hatte er noch nie gefragt. Und ihm selbst war es auch nie über die Lippen gekommen: Ich liebe dich.
Das hatte sie auch gar nicht verlangt. Ja, er hatte sie gebeten, ihn zu heiraten. Und sie hatte eingewilligt. Er hatte eine Ehe gewollt, eine Frau, sie, und er hatte bekommen, was er gewollt hatte. Jetzt sollte das auf einmal nicht mehr genug sein? Jetzt, wo er seine Autorität verloren hatte und die Macht, jeden nach Belieben zu verhaften, ersoff er förmlich in Sentimentalität. Und warum suchte er die Schuld dafür, dass diese Illusion ehelicher Eintracht plötzlich in sich zusammenfiel, eigentlich bei ihr und ihrer pragmatischen Vorgaukelei und nicht bei sich und seinem Misstrauen?
Konnte sie denn nicht ebenso verlangen, dass er sie von seiner Liebe überzeugte? Immerhin hatte er ungerechtfertigterweise angenommen, sie sei ihm untreu gewesen, hatte gar eine regelrechte Überwachung veranlasst, eine Sache, die auch leicht mit ihrer Verhaftung hätte enden können. Er hatte doch das Vertrauen zwischen ihnen gebrochen, lange bevor sie dazu gezwungen gewesen war. Dabei war ihr Antrieb das nackte Überleben gewesen, seiner nur krankhafte männliche Wahnvorstellungen.
Von dem Tag an, als sie ihre Namen als Mann und Frau ins Register eingetragen hatten, sogar noch davor, nämlich von dem Tag an, wo sie miteinander ausgegangen waren, war ihr klar gewesen, dass er sie töten lassen konnte, wenn sie ihn verstimmte. Ihr Leben war von einer ganz banalen Regel bestimmt worden: Sie musste dafür sorgen, dass er zufrieden war. Als Soja verhaftet worden war, hatten sein bloßer Anblick, seine Uniform und sein Geschwafel über den Staat
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