Kind 44
Hintergrund, ein gelber Bleistift und ein Buch mit einem weichen gelben Papierumschlag. Im Sommer fügte er seiner Sammlung immer gelbe Blumen hinzu, die er im Wald pflückte. Aber sie hielten nicht lange, und nichts machte ihn trauriger, als wenn das Gelb langsam schwächer wurde und die Blütenblätter ganz welk und braun wurden. Und er fragte sich: Wo geht das Gelb hin?
Er hatte keine Ahnung. Aber er hoffte, dass er eines Tages dort hingelangen konnte, vielleicht, wenn er starb. Die Farbe Gelb war ihm wichtiger als alles und jedes auf der Welt. Gelb war der Grund, warum er hier gelandet war, im Internat von Wualsk, einem staatlichen Heim für geistig behinderte Kinder.
Als kleiner Junge war er der Sonne hinterhergejagt und hatte gedacht, wenn er nur schnell genug liefe, dann könne er sie sich vom Himmel schnappen und mit heimnehmen. Fast fünf Stunden war er gelaufen, bis man ihn endlich eingefangen und nach Hause gebracht hatte, brüllend vor Wut, weil man seine Jagd unterbrochen hatte. Anfangs hatten seine Eltern ihn verprügelt, weil sie hofften, ihm damit seine Macken austreiben zu können. Aber schließlich hatten sie eingesehen, dass ihre Methode nicht funktionierte, und ihn dem Staat überlassen, der mehr oder weniger dieselbe Therapie angewandt hatte. Die ersten zwei Jahre im Internat hatte man ihn an einen Bettrahmen gekettet, so wie man Hofhunde an Bäume kettete. Aber er war ein kräftiges Kind mit breiten Schultern und trotziger Entschlossenheit. Nach sieben Monaten hatte er es geschafft, den Bettrahmen aufzubiegen, die Kette herauszuziehen und Reißaus zu nehmen. Man hatte ihn am Stadtrand aufgegriffen, wo er dem gelben Waggon eines fahrenden Zuges hinterherhetzte. Schließlich war er in die Anstalt zurückgebracht worden, vollkommen erschöpft und halb verdurstet. Diesmal hatte man ihn in den Schrank gesperrt. Aber das war alles schon lange her. Jetzt vertrauten ihm die Pfleger. Er war schon siebzehn und klug genug, um zu wissen, dass man nie und nimmer weit genug laufen oder hoch genug klettern konnte, um die Sonne vom Himmel zu pflücken. Jetzt konzentrierte er sich darauf, Gelbes zu finden, an das er besser herankam. So wie dieses Baby, das er durch ein offenes Fenster geklaut hatte. Wenn er nicht so in Eile gewesen wäre, hätte er vielleicht versucht, das Baby aus der Decke zu wickeln und dazulassen. Aber dann hatte er Panik gekriegt, dass man ihn schnappen würde, und einfach beides mitgenommen. Und als er jetzt auf das schreiende Baby hinabschaute, stellte er zu seiner großen Befriedigung fest, dass die Decke die Babyhaut ein ganz kleines bisschen gelb machte. Gut, dass er alles beides mitgenommen hatte.
***
Draußen fuhren zwei Wagen vor, und sechs bewaffnete Angehörige der Miliz von Wualsk stiegen aus, angeführt von General Nesterow, einem Mann mittleren Alters mit dem breiten, stämmigen Körperbau eines Kolchosenarbeiters. Er machte seiner Mannschaft Zeichen, das Gebäude zu umstellen, während er selbst und Leutnant Sorkin, sein Stellvertreter, sich dem Eingang näherten. Normalerweise waren sie unbewaffnet, aber heute hatte Nesterow seine Männer angewiesen, ihre Pistolen zu tragen. Und im Bedarfsfall scharf zu schießen.
Die Pförtnerloge stand offen. Ein Radio spielte leise Musik, auf dem Tisch lag ein unbeendetes Kartenspiel, und der Gestank von Alkohol hing in der Luft. Von den Pflegern ließ sich keiner blicken. Nesterow und der Leutnant gingen weiter und kamen in den Flur. Der Alkoholgeruch ging über in den Gestank von Kot und Schwefel. Schwefel wurde benutzt, um die Wanzen zu vertreiben. Der Kotgestank bedurfte keiner weiteren Erklärung, die Wände und der Boden strotzten vor Fäkalien. Die Schlafsäle, an denen sie vorbeikamen, waren vollgestopft mit Kindern, um die 40 pro Raum, die nichts am Leib hatten außer einem dreckigen Hemdchen oder einer dreckigen Unterhose, aber offenbar niemals beides. Sie lagen teilnahmslos in ihren Betten, drei oder vier übereinander auf einer dünnen, verdreckten Matratze. Die meisten starrten nur reglos die Decke an. Bei manchen fragte Nesterow sich, ob sie überhaupt noch lebten. Schwer zu sagen. Die Kinder, die auf den Beinen waren, kamen angelaufen und versuchten nach den Pistolen zu greifen, begrabschten ihre Uniformen, buhlten um die Aufmerksamkeit der Erwachsenen. Bald waren die beiden von Händen umzingelt, die an ihnen hochkrabbelten. Nesterow hatte sich zwar innerlich auf schreckliche Bedingungen eingestellt, aber er konnte
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