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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Frau war weg, und er konnte nichts dagegen machen. Er beugte sich vor und versuchte, zu Atem zu kommen. Dann erkannte er die maroden Blockhäuser wieder, den Abwassergestank. Er musste ganz nah am Bahnhof sein. Anstatt sich umzuwenden, lief er weiter in die Gasse hinein und durch die Hintertür eines der kleinen Häuser. Im nächsten Moment fand er sich unversehens inmitten einer auf dem Boden kauernden Familie wieder, die zu Abend aß. Zusammengedrängt hockten sie um einen Primuskocher und glotzten stumm zu ihm hoch, seine Uniform machte ihnen Angst. Wortlos stieg Leo über die Kinder hinweg und lief nach draußen. Jetzt war er auf der Hauptstraße, durch die waren sie bei ihrer Ankunft gekommen. Der Bahnhof war bereits in Sichtweite. Leo versuchte, noch schneller zu rennen, aber tatsächlich wurde er langsamer. Er konnte nicht mehr.
    Er torkelte gegen die Bahnhofstür und stieß sie mit der Schulter auf. Die Uhr zeigte Viertel vor acht an. Eine Viertelstunde zu spät. Die Erkenntnis, dass sie weg war, wahrscheinlich für immer, traf Leo wie ein Keulenschlag. Er hatte sich an die sinnlose Hoffnung geklammert, dass sie aus irgendeinem Grund doch auf dem Bahnsteig sein würde, dass sie nicht in den Zug gestiegen war. Er trat einen Schritt vor, schaute nach rechts, schaute nach links, sah aber weder seine Frau noch den Zug. Er war am Ende. Die Arme auf die Knie gestemmt, beugte er sich vor, Schweiß rann ihm über das Gesicht.
    Aus dem Augenwinkel sah er auf einer Bank einen Mann sitzen. Warum war noch jemand auf dem Bahnsteig? Wartete der etwa auf einen Zug? Leo richtete sich wieder auf.
    Raisa stand am anderen Ende des Bahnsteigs, in der Dunkelheit hatte er sie nicht gesehen. Es kostete ihn gewaltige Selbstbeherrschung, nicht einfach zu ihr hinzulaufen und sie bei den Händen zu nehmen. Leo holte Luft und versuchte sich zurechtzulegen, was er sagen sollte. Dann sah er an sich hinunter. Er sah unmöglich aus, verschwitzt und verdreckt. Und Raisa sah ihn noch nicht einmal an, sondern schaute über seine Schulter hinweg. Leo drehte sich um. Dicke Dampfwolken pufften über den Baumwipfeln in den Himmel. Der verspätete Zug traf ein.
    Leo hatte sich vorgestellt, dass er sich seine Entschuldigung gründlich überlegen würde, dass er die richtigen Worte finden und eloquent sprechen würde. Aber dieser Plan war durchkreuzt. Jetzt hatte er nur noch Sekunden, um sie zu überzeugen. Er stammelte: »Es tut mir leid. Ich war nicht bei Sinnen. Ich habe dich gewürgt, aber da war ich außer mir. Das war nicht der Mensch, der ich sein möchte.«
    Was für ein Schwachsinn! Das musste doch besser hinzukriegen sein. Ruhig und konzentriert, er hatte nur den einen Schuss frei. »Raisa, du willst mich verlassen.
    Und dazu hast du auch allen Grund. Ich könnte dir jetzt sagen, wie schwer du es haben wirst, so ganz auf dich allein gestellt. Dass sie dich vielleicht anhalten werden, verhören, verhaften. Dass du keine vernünftigen Papiere hast. Du wärst eine Landstreicherin. Aber das ist kein Grund, bei mir zu bleiben. Ich weiß, du willst es riskieren.«
    »Papiere kann man fälschen, Leo. Mir wären falsche Papiere lieber als eine falsche Ehe.«
    Da war es. Ihre Ehe war eine einzige Augenwischerei.
    Die Worte, die Leo hatte sagen wollen, blieben ihm im Mund stecken. Der Zug bremste und kam neben ihnen zum Stehen. Raisas Gesicht blieb ungerührt. Leo machte ihr den Weg frei. Sie ging auf den Eisenbahnwagen zu.
    Konnte er sie einfach so gehen lassen? Über den Lärm der quietschenden Bremsen hinweg brüllte er: »Der Grund, warum ich dich nicht denunziert habe, war nicht, weil ich geglaubt habe, du seist schwanger. Und es hatte auch weiß Gott nichts damit zu tun, dass ich ein guter Mensch bin. Ich habe es gemacht, weil meine Familie das Einzige in meinem Leben ist, wofür ich mich nicht schäme.«
    Zu seiner Überraschung wandte Raisa sich um. »Wo kommt denn plötzlich über Nacht diese Einsicht her?
    Das ist doch billig. Nachdem sie dir deine Uniform ausgezogen und dich deiner Macht beraubt haben, musst du dich jetzt mit mir begnügen. Ist es nicht so? Etwas, was dir noch nie besonders wichtig war, wir nämlich, wird plötzlich wichtig, weil du sonst nichts mehr hast.«
    Die Waggontüren gingen auf, und eine Handvoll Reisender stieg aus. Die Zeit wurde knapp. Raisa wandte sich zum Zug um und wog ihre Möglichkeiten ab. Sie waren erbärmlich. Weder hatte sie Freunde, zu denen sie sich flüchten konnte, noch eine treu sorgende Familie

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