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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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mit dem Mund voller Erde in Augenschein genommen.
    Ruckartig richtete Leo sich auf. Ihm war ein Gedanke gekommen. Er lief los, kletterte vom Bahnsteig, überquerte die Gleise und nahm Kurs auf den Wald. Hinter ihm rief eine Stimme: »Was machen Sie denn?«
    Leo drehte sich um und sah Alexander, der auf dem Bahnsteig stand und eine Zigarette in der Hand hielt.
    Er machte ihm Zeichen, ihm zu folgen.
    Leo erreichte die Stelle, an der der Schnee niedergetrampelt war. In allen Richtungen verliefen einander durchkreuzende Fußstapfen. Leo ging in den Wald hinein, und nach einigen Minuten hatte er die Stelle erreicht, wo vermutlich die Leiche gelegen hatte. Er kauerte sich hin, Alexander schloss zu ihm auf. Leo blickte hoch. »Wissen Sie, was hier passiert ist?«
    »Ich war derjenige, der Ilinaja auf den Bahnhof zurennen sah.
    Sie war ziemlich übel zugerichtet und brachte eine ganze Weile nichts heraus. Ich habe die Miliz gerufen.«
    »Ilinaja?«
    »Die die Leiche gefunden hat! Ist praktisch drübergestolpert. Sie und der Mann, mit dem sie zusammen war.«
    Das Paar aus dem Wald. Leo hatte doch geahnt, dass hier etwas nicht stimmte. »Warum war sie übel zugerichtet?«
    Alexander druckste herum. »Sie ist eine Prostituierte.
    Der Mann, mit dem sie an dem Abend zusammen war, ist ein wichtiger Parteifunktionär. Fragen Sie mich bitte nicht weiter.«
    Leo verstand. Dieser Parteibonze wollte nicht in igendwelchen Polizeiberichten vorkommen. Aber konnte er möglicherweise auch ein Verdächtiger im Mordfall des jungen Mädchens sein? Um ihn zu ermuntern, nickte Leo dem jungen Mann zu. »Ich halte Sie da raus. Versprochen.« Leo schob mit der Hand die dünne Schneedecke beiseite. »Der Mund des Mädchens war mit Erde vollgestopft. Lockerer Erde. Stellen Sie sich mal vor, ich kämpfe mit Ihnen, genau hier an diesem Ort, und ich taste um mich auf der Suche nach etwas, was ich Ihnen in den Mund stopfen kann, weil ich Angst habe, dass Sie schreien und jemand Sie hören kann.«
    Mit den Fingern suchte Leo den Boden ab. Er war hart wie Stein. Er versuchte es an einer anderen Stelle, überall. Es gab keine lockere Erde. Alles war festgefroren.

18. März
    Leo stand vor dem Krankenhaus Nr. 379 und las sich noch einmal den Autopsiebericht durch, dessen wichtigste Erkenntnisse er sich aus dem Original abgeschrieben hatte.
    Zahlreiche Stichwunden.
    Klinge mittlerer Größe.
    Umfangreiche Verletzungen des Rumpfs und der inneren Organe. Sexueller Missbrauch unmittelbar vor oder nach dem Tod.
    Mund voller Erde, obwohl sie nicht erstickt ist. Nasenwege frei. Erde diente anderem Zweck – sie zum Schweigen zu bringen?
    Den letzten Punkt hatte Leo umkringelt. Da der Boden gefroren war, musste der Mörder die Erde schon mitgebracht haben. Er musste den Mord geplant haben.
    Die Tat war mit Vorsatz und vorbereitet ausgeführt worden. Aber warum brachte einer sich Erde mit? Das war eine ziemlich mühselige Methode, jemanden zum Schweigen zu bringen. Ein Lappen, ein Stück Tuch, selbst eine bloße Hand wären viel einfacher gewesen.
    Ohne Ergebnisse in der Tasche beschloss Leo, dass er Fjodors Bitte nachträglich doch noch befolgen würde.
    Er würde sich die Leiche selbst anschauen.
    Als er nachgefragt hatte, wo die Leiche aufbewahrt wurde, hatte man ihn zum Krankenhaus Nr. 379 geschickt. Leo hatte erst gar nicht damit gerechnet, forensische Labore, Pathologen oder ein speziell eingerichtetes Leichenschauhaus vorzufinden. Er wusste, dass es für unnatürliche Todesfälle keinen eigenen Apparat gab. Wozu auch, wenn es gar keine unnatürlichen Todesfälle gab? So war die Miliz im Krankenhaus darauf angewiesen, um die freien Momente der Ärzte zu buhlen, um ihre Mittagspausen oder die zehn Minuten vor der nächsten Operation. Die Ärzte besaßen über ihr medizinisches Allgemeinwissen hinaus keine Fachausbildung und gaben lediglich eine fachkundige Meinung darüber ab, was dem Opfer zugestoßen sein mochte.
    Der Autopsiebericht, den Leo gelesen hatte, basierte auf Notizen, die irgendein Arzt zwischen Suppe und Kartoffeln hingekritzelt hatte. Abgetippt worden waren sie wiederum mehrere Tage später, und zwar von einer vollkommen anderen Person. Es bestand kaum ein Zweifel, dass dadurch viele Erkenntnisse verlorengegangen waren.
    Nr. 379 war eines der berühmtesten Krankenhäuser des Landes und unter denjenigen, zu denen jedermann Zugang hatte, eines der besten weltweit, wie es hieß. Es lag an der Tschaklowa-Straße und erstreckte sich über mehrere

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