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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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oder Geld, um sich selbst über Wasser zu halten.
    Nicht einmal eine Fahrkarte. Bei seiner Analyse hatte Leo schon recht gehabt. Wenn sie fortging, würden die Behörden sie möglicherweise aufgreifen. Allein der Gedanke raubte ihr die Kraft. Raisa sah ihren Ehemann an.
    Sie hatten beide nichts als einander, ob es ihnen nun gefiel oder nicht.
    Raisa setzte den Koffer ab. Leo lächelte, er dachte wohl, hiermit seien sie wieder versöhnt. Wie konnte er? Wütend hob sie die Hand, und das Lächeln verschwand. »Ich habe dich geheiratet, weil ich Angst hatte. Angst, dass ich, wenn ich deinen Avancen nicht nachgebe, verhaftet werde. Vielleicht nicht sofort, aber irgendwann, unter irgendeinem Vorwand. Ich war jung, Leo, und du hattest Macht. Das ist der Grund, warum ich dich geheiratet habe. Diese Geschichte, die du immer wieder erzählst, dass ich mich als Lena ausgegeben habe, die findest du auch noch lustig oder romantisch? Ich habe dir doch nur einen falschen Namen genannt, weil ich fürchtete, du könntest mich finden.
    Was du für Verführung gehalten hast, war für mich Überwachung. Unsere Beziehung war auf Angst gebaut. Vielleicht nicht aus deiner Sicht, du hattest ja keinen Grund, mich zu fürchten, welche Macht hatte ich denn schon? Du hast mich gebeten, dich zu heiraten, und ich habe eingewilligt, weil es das Vernünftigste war. Man fügt sich in die Dinge und arrangiert sich, damit man am Leben bleibt. Du hast mich nie geschlagen oder angebrüllt. Du warst nie betrunken. Eigentlich hatte ich noch Glück. Aber als du mich gewürgt hast, Leo, da hast du damit den einzigen Grund beseitigt, den ich noch hatte, bei dir zu bleiben.«
    Der Zug fuhr ab. Leo sah ihm hinterher und versuchte zu verdauen, was sie ihm gerade gesagt hatte. Aber sie gönnte ihm keine Pause, sondern sprach weiter, so als hätte sie sich diese Worte schon lange in ihrem Kopf zurechtgelegt. Nun war der Damm gebrochen.
    »Wenn man machtlos wird, wie du jetzt, dann hat man das Problem, dass die Leute einem plötzlich die Wahrheit sagen. Daran bist du nicht gewöhnt, du hast vorher ja in einer Welt gelebt, die dich schützte, durch die Furcht, die du verbreitet hast. Aber wenn du willst, dass wir beieinanderbleiben, dann hör bitte mit diesen sentimentalen Illusionen auf. Was uns zusammenhält, sind nur die Umstände. Ich habe dich, du hast mich.
    Sonst haben wir nicht besonders viel. Und sollten wir zusammenbleiben, dann werde ich dir von heute an die Wahrheit sagen und dir keine sanften Lügen mehr auftischen. Wir sind einander jetzt so ebenbürtig wie noch nie zuvor. Entweder akzeptierst du das, oder ich warte hier auf den nächsten Zug.«
    Leo wusste nicht, was er antworten sollte. Darauf war er nicht gefasst gewesen, dass sie ihn so niedermachte, niederredete. Er hatte früher seine Position dazu ausgenutzt, um an eine bessere Wohnung und bessere Lebensmittel zu kommen. Dass er sie auch dazu ausgenutzt haben sollte, eine Frau zu kriegen, war ihm nie in den Sinn gekommen.
    Ihre Stimme wurde ein wenig sanfter. »Es gibt so viele Dinge, vor denen man Angst haben muss. Es geht einfach nicht, dass du auch noch eines davon bist.«
    »Das werde ich nie mehr sein.«
    »Mir ist kalt, Leo. Seit drei Stunden stehe ich nun schon auf diesem Bahnsteig herum. Ich gehe jetzt zurück in unser Zimmer. Kommst du mit?«
    Nein, er wollte nicht mit ihr zurückgehen, Seite an Seite, und dabei doch mit diesem Abgrund zwischen ihnen. »Ich bleibe noch ein bisschen. Wir sehen uns dann da.«
    Er wusste nicht, wie lange er dort sitzen geblieben war, als er merkte, dass jemand neben ihm stand. Leo sah auf. Es war der Mann vom Fahrkartenschalter, der mit dem jugendlichen Aussehen, dem sie bei ihrer Ankunft begegnet waren.
    »Heute gibt es keine Züge mehr.«
    »Haben Sie eine Zigarette?«
    »Ich rauche nicht. Aber ich kann Ihnen eine aus unserer Wohnung holen. Sie ist gleich oben.«
    »Nein, das ist nicht nötig. Trotzdem vielen Dank.«
    »Ich heiße Alexander.«
    »Leo. Macht es Ihnen was aus, wenn ich noch ein bisschen bleibe?«
    »Überhaupt nicht. Ich besorge Ihnen die Zigarette.«
    Bevor Leo antworten konnte, war der junge Mann schon davongeeilt.
    Leo lehnte sich zurück und wartete. Ein Stück weiter weg machte er eine Hütte aus. Das war der Ort, wo man die Leiche des Mädchens gefunden hatte. Leo konnte den Waldrand erkennen, den Tatort. Der Schnee war von Kriminalbeamten, Fotographen und Staatsanwälten nieder getrampelt worden, sie alle hatten das tote Mädchen

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