Kind 44
nur eins bedeuten: Der Verdächtige war schuldig. War ein Fall schwierig, komplex oder unklar, wurde das Verfahren erst gar nicht eröffnet.
Wenn Nesterow und seine Untergebenen derart gelassen blieben, konnte dies nur bedeuten, dass sie überzeugt waren, den Täter schon zu haben. Ihre Arbeit war getan. Die folgende Verstandesarbeit, die Untersuchungen, die Beweisvorlage und schließlich die eigentliche strafrechtliche Verfolgung, war Sache der staatlichen Ermittler und der Staatsanwaltschaft mit ihrer Phalanx von Sledowatjel, ihren Anklägern. Leo sollte gar nicht an dem Fall mitarbeiten. Er sollte nur gezeigt bekommen, wie der Hase hier lief, und ihre Effizienz bestaunen.
Die Zelle war klein, besaß aber keine der ausgeklügelten Umrüstungen wie die in der Lubjanka. Die Wände und der Boden waren aus Beton. Man hatte den Verdächtigen auf einen Stuhl gesetzt und ihm die Hände mit Handschellen am Rücken gefesselt. Er war jung, vermutlich nicht älter als sechzehn oder siebzehn. Sein Körperbau entsprach schon dem eines Erwachsenen, sein Gesicht aber war noch kindlich. Sein Blick schweifte ziellos umher. Angst schien er keine zu haben. Auf seine stumpfsinnige Art machte er einen gefassten Eindruck und zeigte auch keinerlei Spuren körperlicher Gewaltanwendung. Natürlich gab es Methoden, einem Häftling Verletzungen zuzufügen, die man nicht sah, aber Leo spürte instinktiv, dass man dem Jungen nicht wehgetan hatte.
Nesterow zeigte auf den Verdächtigen. »Das ist Warlam Babinitsch.« Als der Junge seinen Namen hörte, glotzte er Nesterow an, so wie Hunde ihr Herrchen ansehen.
Nesterow fuhr fort: »Wir haben bei ihm eine Locke von Larissas Haar gefunden. Er war schon dadurch aufgefallen, dass er ihr nachgestellt hat. Lungerte vor ihrem Haus herum, machte ihr auf offener Straße unsittliche Anträge. Larissas Mutter erinnert sich daran, ihn mehrmals gesehen zu haben. Und auch, dass ihre Tochter sich über ihn beschwert hat. Er hat öfter versucht, ihre Haare zu betatschen.«
Nesterow wandte sich an den Verdächtigen und sprach ihn ruhig an. »Warlam, erzähl uns mal, was passiert ist. Erzähl uns, wie du an eine Haarsträhne von ihr gekommen bist.«
»Hab sie geschnitten. Ich war schuld.«
»Erzähl dem Beamten, warum du sie getötet hast.«
»Mir gefielen ihre Haare. Ich wollte sie haben. Jetzt hab ich ein gelbes Buch, ein gelbes Hemd, eine gelbe Dose und noch gelbe Haare. Deshalb hab ich sie ihr geschnitten. Es tut mir leid. Das hätte ich nicht machen sollen. Wann kann ich die Decke haben?«
»Darüber reden wir später.«
Leo unterbrach ihn. »Was für eine Decke?«
»Vor zwei Tagen hat er ein Baby entführt. Es war in eine gelbe Decke gewickelt. Er ist besessen von der Farbe Gelb. Zum Glück ist das Baby unverletzt geblieben. Aber er hat kein Gefühl dafür, was richtig und was falsch ist. Er tut, was immer ihm gerade in den Sinn kommt, ohne sich über die Folgen Gedanken zu machen.«
Nesterow rückte ein wenig näher an den Verdächtigen heran. »Als ich Larissas Haare in deinem Buch gefunden habe, warum hast du da geglaubt, dass du in Schwierigkeiten bist? Erzähl diesem Mann mal, was du mir gesagt hast.«
»Sie hat mich nie gemocht. Hat mir immer gesagt, ich soll verschwinden, dabei wollte ich doch ihre Haare haben. Unbedingt wollte ich die. Aber als ich sie ihr dann geschnitten habe, hat sie keinen Ton gesagt.«
Nesterow starrte Leo an und überließ ihm das Verhör.
»Haben Sie irgendwelche Fragen?«
Was erwartete der Mann? Leo dachte einen Moment nach, dann fragte er: »Warum hast du ihr Erde in den Mund gestopft?«
Warlam gab nicht sofort Antwort. Er schien durcheinander zu sein.
»Ja, sie hatte da was im Mund. Jetzt fällt es mir wieder ein. Bitte nicht schlagen!«
Nesterow antwortete: »Keiner schlägt dich. Beantworte die Frage.«
»Ich weiß nicht mehr. Ich vergesse immer alles. Stimmt, sie hatte Erde im Mund.«
Leo setzte nach. »Erzähl uns, was passiert ist, als du sie getötet hast.«
»Ich habe sie geschnitten.«
»Hast du sie geschnitten oder ihre Haare?«
»Es tut mir leid, dass ich sie geschnitten hab.«
»Hör mir mal genau zu. Hast du in ihren Körper geschnitten oder in ihr Haar?«
»Ich hab sie gefunden und dann hab ich sie geschnitten. Ich hätte es jemandem sagen sollen, aber ich hab’s mit der Angst gekriegt. Ich wollte nicht in Schwierigkeiten kommen.«
Warlam fing an zu weinen. »Ich bin dermaßen in Schwierigkeiten. Es tut mir so leid. Ich wollte doch
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