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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Hektar einer parkähnlichen Anlage bis hin zum Wald. Leo war beeindruckt. Das hier war nicht einfach nur ein Propagandaobjekt. Viel Geld war in diese Anlage investiert worden, und er verstand nun, warum angeblich alle möglichen Würdenträger aus weiter Ferne angereist kamen, nur um sich in dieser pittoresken Umgebung zu erholen. Leo vermutete, dass die großzügige Finanzausstattung vor allem sicherstellen sollte, dass die Arbeitnehmerschaft der GAZ-Werke gesund und produktiv blieb.
    An der Rezeption bat Leo darum, mit einem Arzt sprechen zu können, und erklärte, es handele sich um den Fall eines Mordopfers, eines jungen Mädchens, das gegenwärtig in ihrem Leichenschauhaus liege. Dem Mann am Empfang schien dieser Wunsch nicht zu behagen, denn er fragte, ob es dringend sei und ob Leo nicht wiederkommen könne, wenn sie weniger zu tun hätten. Leo begriff, dass er nicht in den Fall hineingezogen werden wollte. »Es ist dringend.«
    Zögerlich entfernte sich der Mann.
    Leo trommelte mit den Fingern auf den Schalter der Rezeption. Er fühlte sich unwohl und blickte sich verstohlen über die Schulter zum Eingang um. Sein Besuch war unbefugt und eigenmächtig. Was hoffte er hier überhaupt zu erreichen? Sein Auftrag war doch, die Schuld des Verdächtigen zu untermauern, und nicht, sie grundsätzlich in Frage zu stellen. Zwar hatte man ihn aus der angesehenen Welt der politischen Verbrechen in die dreckige Schattenwelt der normalen Verbrechen verbannt, doch so verschieden waren die Abläufe gar nicht. Er hatte den Tod von Fjodors kleinem Jungen nicht als Unfall abgetan, weil es dafür Beweise gab, sondern weil die Parteilinie dieses Dementi verlangte.
    Er hatte Leute verhaftet, nur weil man ihm Listen mit Namen gegeben hatte. Listen, die man hinter verschlossenen Türen aufgesetzt hatte. Das war seine Methode gewesen. Leo war nicht naiv genug zu glauben, dass er den Verlauf der Ermittlungen würde ändern können. Er hatte nichts zu sagen. Und selbst wenn er an oberster Stelle der Hierarchie gesessen hätte, hätte er den Lauf der Dinge nicht aufhalten können. Der Weg war festgelegt, der Verdächtige ausgesucht. Es war unausweichlich, dass man Babinitsch schuldigsprechen würde, und ebenso unausweichlich, dass er sterben würde. Abweichungen oder gar die Anerkenntnis der Fehlbarkeit waren im System nicht vorgesehen.
    Und überhaupt, was hatte er eigentlich mit der Sache zu schaffen? Das hier war nicht seine Stadt, mit den Leuten hatte er nichts zu tun. Er hatte den Eltern des Kindes nicht geschworen, dass er den Mörder finden würde. Weder hatte er das Mädchen gekannt, noch hatte ihr Schicksal ihn berührt. Hinzu kam, dass der Verdächtige eine Bedrohung für die Allgemeinheit darstellte – immerhin hatte er ein Baby entführt. Das waren alles hervorragende Gründe, um einfach die Hände in den Schoß zu legen. Und noch ein anderer kam hinzu: Was kann ich allein schon ausrichten?
    Der Mann vom Empfang kam mit einem anderen Mann, Anfang vierzig, zurück, einem Doktor Tjapkin, der sich bereit erklärte, Leo ins Leichenschauhaus zu bringen, unter der Bedingung, dass es keinen Papierkram gab und sein Name in keinem Bericht auftauchte.
    Auf dem Weg äußerte der Arzt seine Zweifel, dass das Mädchen überhaupt noch da war. »Wir behalten sie nicht lange hier, außer man bittet uns darum. Eigentlich hatten wir den Eindruck, die Miliz wisse schon alles, was sie wissen wollte.«
    »Haben Sie die Autopsie durchgeführt?«
    »Nein, aber ich habe von dem Mord gehört. Ich dachte, Sie hätten den Schuldigen längst gefasst.«
    »Schon möglich.«
    »Verzeihen Sie, dass ich Sie das frage, aber sind wir uns schon einmal irgendwo begegnet?«
    »Ich bin erst kürzlich angekommen.«
    »Woher stammen Sie?«
    »Aus Moskau.«
    »Sind Sie versetzt worden?«
    »Ja.«
    »Ich bin vor drei Jahren hergeschickt worden, auch aus Moskau. Sie sind doch bestimmt geknickt, jetzt hier zu sein.« Leo schwieg.
    »Sie brauchen gar nichts zu sagen. Ich war damals auch geknickt. Ich hatte einen Ruf, Bekannte, Familie. Ich war gut befreundet mit Professor Wowsi. Hierher versetzt zu werden war für mich eine Degradierung. Aber letzten Endes hat es sich als Segen erwiesen.«
    Leo erinnerte sich an den Namen. Professor Wowsi war einer der vielen jüdischen Ärzte gewesen, die man interniert hatte. Seine Verhaftung und die seiner Kollegen hatte eine neue Stufe in der Judenverfolgung markiert, die Stalin in Gang gesetzt hatte. Es hatte genaue Pläne gegeben,

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