Kind der Hölle
erledigt war.
Das Messing glänzte; die Statuen waren sauber.
Luke schüttelte den Kopf: »Ich will in meinem ganzen Leben kein Putzmittel mehr sehen!«
Jared gab keine Antwort, denn während Luke ihr gemeinsames Werk begutachtete, hatte er in einem der Seitenaltäre etwas entdeckt, das ihn faszinierte. Auf einem kunstvoll gemeißelten Altar aus weißem Marmor stand eine Heiligenfigur, umgeben von mehr als einem Dutzend Kreuzen verschiedener Größe.
»Was war denn an der da so Besonderes?« Er deutete mit dem Kopf auf die Figur.
»Keine Ahnung«, mußte Luke zugeben. »Vielleicht war sie die Lieblingsheilige von jemandem.«
Jared trat näher heran, und jetzt schien die Statue ihn anzusehen.
Es war ein anklagender Blick. »Sie schaut so drein, als würde sie sich für was Besseres, als wir es sind, halten«, kommentierte er, »und all die anderen Figuren schauen genauso überheblich drein.«
»Na und?« meinte Luke. »Sie sind Heilige, und sie waren bessere Menschen als wir. Was willst du dagegen machen?«
»Oh, ich habe da so einige Ideen«, grinste Jared.
Er streckte die Hand aus und brach eines der Kreuze ab.
»Um Himmels willen, Jared«, murmelte Luke entsetzt. »Was tust du?«
Jared blickte ihm tief in die Augen. »Das siehst du doch! Ich nehme eins von diesen Dingern mit. Es sind so viele, daß kein Mensch bemerken wird, wenn eines fehlt.«
»Aber was willst du damit?«
»Das wirst du schon sehen … Wart’s ab!«
Monsignore Devlin stand langsam auf. Seine Gelenke schmerzten vom stundenlangen regungslosen Sitzen im engen Beichtstuhl. Obwohl Cora Conway in den letzten Jahrzehnten sein einziges Beichtkind gewesen war, fand er in dem zweigeteilten Holzgehäuse immer noch einen Seelenfrieden wie nirgends sonst. Bei geschlossenem Gitter, für den Fall, daß jemand versuchen würde, seine Sündenlast loszuwerden, verbrachte er hier oft den ganzen Nachmittag und ließ seinen Gedanken freien Lauf, ungestört von äußeren Einflüssen.
Heute war dieser Frieden jedoch erheblich gestört worden. Die Flüche und obszönen Bemerkungen der beiden Jungen, die die Kirche putzten, machten eine stille innere Einkehr unmöglich. Er war versucht gewesen, sie aus dem Heiligtum zu jagen, hatte sich aber dann eines Besseren besonnen, denn das Heiligtum würde seinen Namen nicht verdienen, wenn dort kein Platz für verirrte Schafe war. Vater Devlin vertrat die Ansicht, daß die Kirche nicht nur den Frommen, sondern auch den Gottlosen offenstehen müsse, und deshalb blieb er im Beichtstuhl sitzen und betete für die Errettung der Jungen.
Während eines Rosenkranzes spürte er einen Luftzug, und er warf unwillkürlich einen Blick nach draußen.
Obwohl er den Jungen, der am Beichtstuhl vorbeiging, noch nie gesehen hatte, erkannte er ihn sofort. Alle Conways hatten die gleichen Gesichtszüge, und ein flüchtiger Blick auf den Teenager genügte, um die Erinnerung an dessen Großonkel wachzurufen.
An den Großonkel und alle Conways vor ihm.
Nach diesem Zwischenfall konnte Vater Devlin sich nicht mehr auf seine Gebete konzentrieren, denn die Worte, die er in Cora Conways Bibel gelesen hatte, drängten sich ihm ins Gedächtnis und ließen seine Seele frösteln. Nachdem er damals entziffert hatte, was Loretta Villiers Conway vor ihrem Selbstmord aufgeschrieben hatte, wurde er das Gefühl nicht los, unbefugt in die Privatsphäre der längst verstorbenen Frau eingedrungen zu sein, und er hatte sich vorgenommen, die Bibel nie wieder aufzuschlagen. Doch jetzt, nachdem er Coras Großneffen gesehen hatte, begriff er, daß sie ihm die Bibel gegeben hatte, damit er las, was die Vorfahren ihres Mannes geschrieben hatten. Sie mußte gewollt haben, daß er etwas über die Conways erfuhr, sonst hätte sie ihm die Familienbibel nie anvertraut.
Er ließ die Jungen allein in der Kirche zurück. Er schlurfte ins Pfarrhaus zurück. Dort erklomm er mühsam die Treppen zu seiner Zelle in der obersten Etage, schlug Coras Bibel auf und machte sich an die Arbeit. Der Eintrag, der dem von Loretta Villiers Conway folgte, war von einer so ungeschulten Hand geschrieben worden, daß man ihn kaum entziffern konnte. Vater Devlin brauchte für die wenigen Zeilen eine ganze Stunde. Er rieb sich die schwachen Augen und streckte seinen schmerzenden Rücken, bevor er den Text zum zweitenmal las, was ihm fast genauso schwerfiel wie das vorherige Entziffern. Ein großer Tintenfleck hatte das Datum verwischt.
22. August 1912
Miz Loretta hat mier dise Bibel
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