Kind der Nacht
denen ich meine Seele sehen konnte. Es waren beinahe zwanzig Jahre vergangen. Ich hatte um Anne-Marie getrauert. Nun wollte ich wieder lieben. Sie sagte mir, sie habe Verständnis für meinen Zustand. Aber als es ums Blut ging, passierte dasselbe. Sie machte einen Rückzieher und wurde hysterisch. Ich war das Ungeheuer, und sie wollte fliehen. Ich geriet in Wut. Und es waren nicht allein ihre Worte. Ich konnte geradezu fühlen, wie sie sich mir widersetzte. Ich begann sie als Beute zu sehen und nicht als Geliebte. Und als sie um ihr Leben flehte, war alles wieder wie gehabt, ich verlor die Kontrolle. Und damit sie. Ich schwor mir, es nie wieder zu versuchen, nie wieder jemanden so nahe an mich heranzulassen. Das alles ist so lange her, aber mir kommt es vor wie gestern.« Er seufzte.
»Das Blut aufzugeben, ist nicht leicht. Wir hassen es, ihm zu entsagen. Es bereitet uns körperliche Schmerzen, aber damit kann ich fertig werden. Ich hätte in der Lage sein müssen, es zu tun. Andere konnten es. Ich weiß nicht! Vielleicht mache ich mir ja auch etwas vor. Möglicherweise liegt es in der Familie.«
Sie war versucht, ihn zu fragen, was er damit meinte, hatte jedoch Angst, dass er dann gar nichts mehr sagen würde. Statt ihn also zu fragen, beugte Carol sich über ihn und küsste ihn auf den Mund. Er zog sie hinab, bis sie über ihm war, dann wälzte er sich mit ihr um die eigene Achse und drang in sie ein.
Später, noch ehe der Morgen graute, erzählte er ihr von seinen Eltern. »Ich weiß, dass ich sie geliebt habe, aber im Grunde kann ich mich nicht an sie erinnern.«
Sie hatten einander in die Augen geblickt, doch nun drehte er sich auf den Rücken und bedeckte sein Gesicht mit dem Arm. Seine Mundwinkel wiesen nach unten, und sie hatte das Gefühl, dass ihn jedes Wort unendliche Mühe kostete.
»Als ich geboren wurde, waren sie bereits in fortgeschrittenem Alter. Als ich so alt war wie Michael heute, hatte ich mich bereits daran gewöhnt, keine Eltern mehr zu haben. Sie waren weg, und nur drei meiner Brüder waren noch am Leben. Chloe nahm meinen Vater. Sie war seine Schwester.«
Carol war entsetzt.
»Mit uns funktioniert es wie bei einer Kette - wir sind alle miteinander verbunden, einer mit dem anderen, so als wären wir alle miteinander verwandt. Chloe wurde von jemandem verwandelt, den sie noch nicht einmal kannte und seitdem auch nie wieder gesehen hat, eine zufällige Begegnung in der Nacht. Wir nehmen an, es ist derselbe, der Karl und auch unseren Freund David verwandelt hat. Aber eigentlich spielt es keine Rolle, denn wir fühlen einander. Stirbt einer von uns, durchleben wir alle seinen Tod, selbst wenn wir nicht bei ihm sind.
Mein Vater bestand darauf, dass Chloe ihn verwandeln solle. Ich hatte gerade meinen fünften Geburtstag gefeiert. Ich erinnere mich noch an den Kuchen, den meine Mutter für mich gebacken hatte. Es war der letzte. Aber wie dem auch sei, mein Vater überredete Chloe dazu, es zu tun - er sah gut aus und konnte jeden um den Finger wickeln, und weil er der Jüngste war, so wie ich, war er immer ihr Liebling gewesen, und sie liebte es, ihn zu verwöhnen. Er hatte Tuberkulose und wusste, dass er nicht mehr lange zu leben hatte.
Chloe sagt, die Frauen lagen ihm zu Füßen. Aber er liebte allein meine Mutter, und nachdem er erst einmal die Verwandlung hinter sich hatte, wollte er natürlich auch sie verwandeln. Aus dem, was Chloe mir erzählt hat, muss ich schließen, dass meine Mutter ganz ähnlich wie Anne-Marie und Sylvie reagierte. Um es kurz zu machen, es missglückte. Nachdem mein Vater meine Mutter getötet hatte, tötete er sich selbst.«
»Wie denn?«, stieß Carol hervor.
»Er kettete sich im Freien auf einem Feld an, und zwar dergestalt, dass er weder der Sonne entgehen noch an Nahrung kommen konnte. Es muss ein sehr schmerzhafter Tod gewesen sein. Chloe sagt, es dauerte sechs Tage, in denen er langsam verbrannte und verhungerte, bis er endlich tot war. Aber ich glaube, er wollte leiden, weil er diese Schuld auf sich geladen hatte. Ich hätte das Gleiche tun sollen; aber ich habe nicht den Mumm dazu gehabt.
Chloe hat mich aufgezogen. Als ich siebenunddreißig war, bat ich sie, mich zu verwandeln, weil ich bisher nur in ihrer Welt gelebt hatte und mittlerweile die Vorteile darin sah. Wahrscheinlich ließ ich mich davon blenden. Ich habe nie begreifen können, weshalb Sterbliche die Möglichkeiten nicht sehen.
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