Kind der Nacht
komm schon« und zog Carol mit sich. Jeanette und Chloe bedeutete sie, mitzukommen.
»Ich habe noch etwas zu tun«, erklärte Chloe.
Oben im zweiten Stock setzte Gerlinde Carol in einem Zimmer, das nur unwesentlich anders eingerichtet war als dasjenige, in dem sie in Bordeaux gelebt hatte, vor einen Schminktisch. »Das sieht ja schlimm aus.« Gerlinde zupfte an den Spitzen von Carols Haaren. »Du wäschst, ich schneide«, wies sie Jeanette an.
»Du willst mir die Haare machen? Mein Leben steht auf dem Spiel, und dir fällt nichts anderes ein als ein Haarschnitt?« Carol war zutiefst enttäuscht.
»Eine neue Frisur kann an einem Mädchen Wunder wirken«, lachte Gerlinde und tänzelte, Carol hinter sich herziehend, ins Badezimmer.
Während Gerlinde ihr die Haare schnitt, kümmerte Jeanette sich um Maniküre und Pediküre und lackierte ihr die Finger- und Zehennägel in einem hellen Rot.
»Ihr beide seid doch verrückt. Das ist der lächerlichste Plan, von dem ich jemals gehört habe.«
»Es ist kein bisschen lächerlich«, entgegnete Jeanette. »André orientiert sich sehr an Äußerlichkeiten. Darin ist er Julien recht ähnlich. In anderer Hinsicht ebenfalls.«
»Das ist ja typisch. Erst verlangt ihr von mir, dass ich >Verständnis< für ihn aufbringe, und jetzt soll ich ihn auch noch verführen. Das machen Frauen doch seit tausenden von Jahren.«
»Und meist funktioniert es auch«, sagte Gerlinde, indem sie ihr die Haare an den Seiten kerzengerade nach unten zog, um zu überprüfen, ob sie sie auch gerade geschnitten hatte.
»Aber es ist so unaufrichtig. Und so unemanzipiert!«
»Kleines, wenn du als >Frau des Jahres< für die Feministinnen-Presse antreten willst, hast du wahrscheinlich Recht. Dann wird dir das keine Stimmen bringen. Wenn du allerdings André davon abhalten willst, dir den Kopf abzureißen, dann dürfte ihn zu bezirzen genau das Richtige sein.«
»Und es ist keineswegs unaufrichtig«, fiel Jeanette ein. »Ich denke, André hat Zutrauen in das Körperliche, weil er es begreifen kann.«
»Ah, mit einem Neurotiker muss man so sprechen, dass er es auch versteht, stimmt’s?«, fragte Carol anzüglich lächelnd.
Nachdem Carols Haar hübsch gestylt war und ihr Gesicht umrahmte und sie sie so weit geschminkt hatten, dass ihr Gesicht betont wurde, zogen sie Carol aus, und Jeanette tupfte ihr mit den Worten »Nur ein wenig« einen Tropfen Obsession zwischen die Brüste. Das meiste davon wischte sie mit einem Papiertaschentuch wieder weg. »Unser Geruchssinn ist sehr stark entwickelt.«
Carol ließ alles über sich ergehen, aber insgeheim war sie der Ansicht, dass es reine Zeitverschwendung war.
»Was soll sie anziehen?«, fragte Gerlinde. »Meine Sachen sind ihr wahrscheinlich zu klein und zu ausgeflippt.«
»Ich komme gleich wieder«, sagte Jeanette.
»Gerlinde«, fragte Carol. »Glaubst du wirklich, dass das einen Unterschied macht?«
»Falls es nichts hilft, wird es jedenfalls nicht schaden. Jede Vampir-Oma kann dir das sagen.«
»Wie beruhigend«, seufzte Carol.
Als Jeanette zurückkehrte, trug sie ein lindgrünes Satin-Negligee über dem Arm. »Wenn es blau wäre, würde es deine Augen besser zur Geltung bringen. Aber ich habe es passend zu meinen Augen gekauft.« Sie streifte es Carol über den Kopf. Es war viel zu lang und wirkte an ihr wie ein Stück aus dem Secondhandshop.
»Ich sehe aus wie ein kleines Mädchen, das in die Sachen seiner Mutter geschlüpft ist«, kicherte Carol.
»Wir werden es kürzen«, sagte Jeanette. »Gib mir die Schere.«
»Nein, bloß nicht. Es ist viel zu hübsch«, wandte Carol ein.
»Davon habe ich noch Unmengen. Außerdem handelt es sich um einen Notfall.« Jeanette zerschnitt die Spaghetti-Träger und band sie zu großen Schleifen. Das Nachthemd war immer noch zu lang. Die beiden Vampirinnen traten einen Schritt zurück, um ihr Meisterwerk in Augenschein zu nehmen. »Nahezu perfekt!«, rief Gerlinde.
»Reizend«, meinte Jeanette.
»Es sieht gar nicht so schlecht aus, oder?« Carol betrachtete sich in einem großen Spiegel. Seit Jahren hatte sie sich keine Gedanken mehr um ihr Aussehen gemacht. »Und jetzt?«
»Hol ihn dir!«, knirschte Gerlinde zwischen zusammengebissenen Zähnen.
»Einfach so? Hat irgendjemand einen Stuhl und ’ne Peitsche?«
Jeanette drehte sie zur Tür, und Gerlinde machte sie auf.
Carol schürzte die Lippen. »Ich weiß nicht recht...« Sie schubsten sie hinaus, jede ergriff
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