Kind der Nacht
Außerdem war sie alles, was ich an Familie hatte. Zunächst lehnte sie es ab, aber schließlich überredete ich sie dazu. Ich nehme an, ich bin wie mein Vater. In vielerlei Hinsicht.«
Er blickte Carol an, und zum ersten Mal wurde ihr klar, was sich hinter seiner Maske aus Wut und Ablehnung verbarg. Sein wahres Gesicht zeigte Trauer und Einsamkeit, und er war so verletzlich, dass es ihr beinahe das Herz zerriss.
»Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll«, sagte er. »Es gibt eine uralte indianische Legende - sie ist sehr bekannt, du hast sie bestimmt schon einmal gehört. Es geht um einen Skorpion, der einen Frosch bittet, ihn auf seinem Rücken über einen Fluss zu tragen. Der Frosch sagt Nein, denn er hat Angst, dass der Skorpion ihn stechen wird und er dann stirbt. Aber der Skorpion argumentiert sehr überzeugend: >Mach dich nicht lächerlich! Wenn ich das tue, ertrinken wir doch beide. < Schließlich gelingt es ihm, den Frosch zu überreden. Auf halber Strecke sticht der Skorpion plötzlich zu und sie gehen beide unter. Natürlich ist der Frosch empört und will mit seinem letzten Atemzug noch wissen, warum. Weißt du, was der Skorpion ihm antwortet? >Es ist nun mal meine Natur!<
Ich will dich nicht töten, aber ich weiß nicht, ob ich zu irgendetwas anderem in der Lage bin. Sie wollen es auf drei Nächte ausdehnen.« Er lachte freudlos. »Ich halte es ja noch nicht mal eine Nacht aus!«
Er drehte sich zu ihr. Behutsam nahm er ihr Gesicht in die Hände und strich mit den Daumen sanft über die Wangenknochen. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck, den sie endlich verstand, denn auch sie hatte erfahren, was Leid bedeutete.
»Merk dir eines, Carol: Flehe mich auf keinen Fall an! Was auch geschieht, bettle nicht um dein Leben. Denn eines weiß ich mit Sicherheit: Wenn du anfängst, in mir ein Ungeheuer zu sehen, werde ich auch zu einem und kann nichts dagegen tun. Dann reiße ich dich in Stücke.«
31
Am Freitagabend, der ersten Nacht des Rituals, ging André gleich nach Sonnenuntergang aus dem Haus, um sich Blut zu besorgen. Carol brachte ihn noch zum Wagen. Sie küssten einander, aber keiner von beiden sagte ein Wort. Es gab ja auch nichts mehr zu sagen.
Sie rief Rene an. Niemand nahm ab. Sie hinterließ keine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Am Montag würde sie wieder anrufen, falls es sie dann noch gab.
Gerade als Carol den Hörer auflegte, klopfte es an der Tür. Sie vernahm eine Stimme, die sie kannte, und machte, dass sie zum Eingang kam. »Mein Gott! Was tun Sie denn hier?«
»Lassen Sie mich rein«, sagte Rene, indem sie sich an Gerlinde vorbeizwängte. »Carol, ich bin ja so erleichtert, dass Sie in Ordnung sind. Ich habe mir schon Sorgen um Sie gemacht.«
»Natürlich bin ich in Ordnung«, erwiderte Carol, während sie einander umarmten. »Das habe ich Ihnen doch gesagt.«
»Ich musste sichergehen, dass Sie nicht unter Zwang angerufen haben.«
»Das ist zweifellos die Therapeutin«, sagte Karl. Mit einer Kopfbewegung bedeutete er Gerlinde, die Tür zu schließen. Sie tat es, und Carol registrierte, dass sie auch den Riegel vorlegte.
»Ja, das bin ich. Rene Curtis! Und Sie müssen Karl sein!« Sie hielt ihm die Hand hin, was Karl ignorierte. In der Diele wurde es langsam voll. Neben Karl und Gerlinde fanden sich auch Jeanette und Chloe ein, um den unerwarteten Besuch in Empfang zu nehmen, und hinter ihnen kam Julien. Rene blickte abschätzig von einem zum andern. »Das sind also die Vampire.«
Carol sog die Luft ein. »Rene, Sie sollten nicht hier sein. Der Zeitpunkt ist denkbar ungünstig ...«
Rene wandte sich ihr zu. »Carol, Sie sind wie eine Tochter für mich, das wissen Sie. Ich konnte Sie doch nicht einfach vergessen, nicht nach allem, was wir gemeinsam durchgemacht haben. Außerdem wollte ich sie kennen lernen.«
»Wo sie schon einmal hier ist, was machen wir jetzt mit ihr?«, sagte Gerlinde.
»Mit mir machen? Nun, Sie werden mich natürlich hereinbitten! Ich will ganz genau wissen, was mit Carol los ist. Sie braucht jemanden, der sich für sie einsetzt.«
»Carol hat noch nie jemanden gebraucht, der das Reden für sie übernimmt«, sagte Chloe. Carol hatte noch nie eine solche Kälte in ihrer Stimme gehört. »Dazu ist sie sehr wohl selbst in der Lage.«
»So? Das glaube ich aber nicht! Mir scheint, dass sie von Ihresgleichen - ist das der korrekte Ausdruck? - sehr, sehr schlecht behandelt wurde. Sie ist Ihnen
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